Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
berührte ihn. Auf den ersten Blick wirkte Agnes zerbrechlich, doch der Schein trog. Schon mehrfach hatte er festgestellt, dass sie recht energisch werden konnte, wenn er sich beispielsweise weigerte, etwas zu sich zu nehmen oder sich nicht von ihr rasieren lassen wollte. Ihre Stimme blieb dann ruhig und sanft, aber ihr Gesicht zeugte von einem unbeugsamen Willen, der ihn überraschte. Manchmal war sie ihm unheimlich, diese Agnes mit dem streng gebundenen Kopftuch. Dabei hätte er ihre Haare gern gesehen. Ihrer Haut nach zu urteilen, mussten sie hell sein.
Agnes reagierte auf jede seiner Fragen einsilbig. Seltsam, seine Schwester müsste eigentlich ebenso wie er das Bedürfnis haben, ihm von der Familie und ihrem Leben zu erzählen. Sie war die Einzige, die ihm seine Vergangenheit zurückgeben konnte. Warum tat sie es nicht? Am liebsten hätte er sie auf der Stelle geweckt und zur Rede gestellt. Nannte sie so etwas Geschwisterliebe, ihn dermaßen im Unklaren zu lassen? Nur die pochenden Schmerzen in seinem Oberschenkel hinderten ihn daran, aus dem Bett zu springen und sie zur Rede zu stellen. Anfänglich war er zu sehr mit seinem gequälten Körper beschäftigt gewesen, um klar denken zu können. Nun dagegen, da es ihm von Tag zu Tag ein wenig besser ging, wurde der Wunsch, alles zu erfahren, drängender. Wäre doch gelacht, Schwesterchen, wenn es mir nicht gelänge, Licht ins Dunkel zu bringen. Seine Mundwinkel hoben sich.
Die Gelegenheit dazu ergab sich am nächsten Abend, als Agnes sich wie in den Nächten davor aus der Kammer schleichen wollte.
»Wo willst du hin?«
Sie fuhr herum. Im matten Licht des Mondes wirkte ihr Gesicht bleich. »Habe ich dich geweckt, Adam? Das tut mir leid!«
Er richtete sich im Halbdunkel auf und klopfte mit der flachen Hand auf die Bettdecke. »Nein, ich habe gar nicht geschlafen. Komm, setz dich zu mir!«
Zögernd trat sie näher und ließ sich auf der Bettkante nieder, während der Hund sich vor ihre Füße legte. »Schlaf weiter, Lump«, flüsterte sie und strich ihm kurz über das Fell.
Adam fuhr sich durch die wirren Haare. »Lump? Dein Köter hat also einen Namen?«
Sie nickte wortlos und ließ ihn in dem Glauben, der Hovawart würde ihr gehören.
Er schüttelte den Kopf. »So ein dummes Zeug.« Adam betrachtete sie eingehend, und als er registrierte, wie ihre Augen unruhig umherwanderten, ergriff er ihre Hand. »Willst du mir nicht erzählen, was los ist, Schwester? Jede Nacht schleichst du dich raus. Kannst du nicht schlafen?«
Sie entzog sich ihm. »Ich möchte nicht darüber reden. Ich kann nicht.«
Adam fasste nach ihrem Handgelenk. »Kannst du nicht oder willst du nicht?«
Die eintretende Stille bedrückte ihn. Warum nur benahm sie sich so eigenartig? Er konnte spüren, dass sie am liebsten aus der Kammer gestürmt wäre. Die Haut an ihrem Handgelenk war warm und weich, und ihr Puls raste unter seinen Fingern. Adam war verwirrt. Wovor nur hatte sie so viel Angst? Doch dieses Mal würde sie ihm nicht so einfach davonkommen. Nachdenklich strich er mit den Fingerspitzen über ihren Puls, als könnte er sie damit beruhigen. Wie sollte er beginnen? »Hast du mir sonst … ich meine, haben wir früher viel miteinander gesprochen, Agnes?«
Sie schwieg und mied seinen Blick.
»Wir sind Geschwister. Haben wir uns gut verstanden? Erzähl schon!« Er biss sich auf die Lippen. »Ich möchte mehr wissen über uns und unsere Familie. Woher kommen wir? Was ist mit unseren Eltern? Leben sie noch, oder sind wir Waisen?«
Als sie nach wie vor schwieg, drückte er ihren Unterarm, bis sie einen leisen Schmerzensschrei ausstieß. »Verdammt noch mal, sprich mit mir! Kannst du dir denn nicht vorstellen, wie es mir geht, wie furchtbar es ist, sich an nichts erinnern zu können?«, brach es aus ihm heraus. »Diese Ungewissheit hält ja kein Mensch aus!«
»Du tust mir weh, Adam! Und sprich bitte leiser, oder willst du Ludewig aufwecken?«
Er lockerte seinen Griff. »Dann sag mir endlich, was los ist! Wer bin ich? Wer bist du? Ja, ich weiß, wir sind Agnes und Adam, die im Wald von Lübeck unterwegs waren, wo mich dieses verdammte Wildschwein angegriffen und beinahe umgebracht hat. Aber was hatten wir dort zu suchen? Wollten wir nach Lübeck? Sind wir dort zu Hause?«
Agnes nickte beinahe unmerklich, aber ihm war es nicht entgangen.
»Warum sind wir dann nicht dort, sondern hier in Hamburg? Gibt es keine Bader in Lübeck, die mich gesund pflegen können?« Die Sache wurde
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