Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
mich um Bruno kümmern. Er braucht Wasser und etwas zu fressen.«
Sie lächelte. »Du hast dem Tier also auch einen Namen gegeben?«
Urban zuckte die Achseln. »Warum nicht? Jeder braucht einen Namen. Du willst doch auch nicht einfach nur Mädchen gerufen werden, sondern möchtest mit Agnes angesprochen werden!«
Cristin schwieg. Agnes. Sie konnte diesen Namen kaum noch ertragen. Die Kehle wurde ihr eng, während sie Baldos Profil betrachtete. Er wartete nach wie vor auf ihre Erklärungen.
Urban schlenderte zum Ende des anderen Wagens, wo der Karren mit dem Bären stand. Das Tier stieß ein tiefes Grollen aus, als der große Mann in der Dunkelheit an den Käfig trat. Kurz darauf hörte sie ihn leise und fast zärtlich mit dem Bären sprechen. Wieder schüttelte sie den Kopf. Ein Kerl wie ein Baum – mit der Seele eines Kindes.
Sie gesellte sich zu den beiden jungen Frauen, die unter einem Dreibein ein Feuer entfacht hatten und in dem Kessel darüber eine Suppe erwärmten. Nachdem Urban den Bären und Michel, Utz und Mathes die Pferde versorgt hatten, setzten sich die Männer und Frauen um das Feuer nieder und ließen sich das einfache Essen schmecken, das Irmela und Duretta zubereitet hatten. Es bestand aus einer kräftigen Rübensuppe mit Zwiebeln und Pökelfleisch und zwei runden Laiben Gerstenbrot. Mathes, ein kräftiger Mann mit halblangen schwarzen Locken, brach ein Stück Brot ab und schob es sich in den Mund. Kauend wandte er sich an Baldo, der beim Niederlassen auf der Wiese trotz Cristins Hilfe vor Schmerzen aufgestöhnt hatte. »Erzähl doch mal, was passiert ist«, forderte er ihn auf.
Cristin bemerkte, wie ihr Begleiter sich versteifte, sein Körper schien wie eine Sehne gespannt zu sein. Schnell ergriff sie das Wort. »Mein Bruder und ich waren auf dem Weg nach Lüneburg. In einem Wald nahe der Stadt wurden wir von einem Wildschwein angegriffen.«
Still wurde es zwischen ihnen, so still, dass Cristin neben dem Knistern des Feuers auch die Mücken summen hören konnte, die das Licht der Flammen anzog. Aus der Ferne meinte sie, den Flügelschlag einer Eule wahrnehmen zu können und kurze Zeit später das Fiepen ihres Opfers.
»Da habt ihr ja mächtig Glück gehabt, dass ihr mit dem Leben davongekommen seid!«, stieß Urban hervor.
Cristin sah, wie er die Augen auf den nachtschwarzen Himmel heftete. »Allerdings. Ich säße heute nicht hier, wenn Adam die Bestie nicht von mir abgelenkt und zur Strecke gebracht hätte.« Wie leicht es ihr inzwischen fiel, die Wahrheit so hinzubiegen, wie es gerade passte. Sie sah zu Boden, schwieg.
Irmela, die neben ihr saß, drehte den Kopf. »Was ist mit dir, Agnes?«
»Ich kann nicht darüber sprechen.«
Baldo fasste nach ihrer Hand, und sein intensiver Blick verunsicherte sie. Würde er auch dann noch, wenn er die ganze Wahrheit kannte, zu ihr stehen? Am liebsten wäre Cristin aufgestanden und davongelaufen. Fort vor ihrer bevorstehenden Beichte, fort von seiner Enttäuschung und dem Gefühl, alles falsch gemacht zu haben. Mit trockenem Mund erhob sie sich, blickte in die Runde und betrachtete die ihr zugewandten, freundlichen Gesichter. »Danke für das Essen, es war köstlich. Ich bin müde und gehe zur Ruhe.«
Hastig verließ sie das Lagerfeuer und hockte sich mit angezogenen Beinen auf eine der Decken, die in der Nähe des Feuers ausgebreitet waren. Lump trottete hinter ihr her, als wüsste er, dass sie seine Nähe brauchte. Sie bettete den Kopf auf die Knie und lauschte auf die hinkenden, sich nähernden Schritte Baldos.
Er setzte sich zu ihr. »Was für ein schöner Abend, Schwester.«
Sie schwieg. Das Klopfen ihres Herzens übertönte das leise Gelächter, das von dem fröhlich knisternden Feuer zu ihnen herüberdrang. Ein schöner Abend. Wie schade nur, dass sie den Zauber der Nacht zerstören musste. Langsam hob sie den Kopf und schaute hinauf zu den unzähligen Sternen am Firmament, während Lump sich an ihrer Seite zusammenrollte.
»Ich werde dir alles erzählen, Adam«, begann sie, ohne ihn anzusehen. »Du sollst die ganze Wahrheit erfahren. Aber bitte unterbrich mich nicht, denn ich weiß nicht, ob ich noch einmal den Mut dazu haben werde.« Sie spürte, wie er sie von der Seite anstarrte, und fühlte seine Hand auf ihrem Arm. Auf einmal wurde alles wieder lebendig in ihr. Wieder drängten sich ihr Bilder aus der Vergangenheit auf, nahmen sie gefangen.
»Du … du bist nicht mein Bruder.«
Sein Griff verstärkte sich. »Ich bin nicht dein
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