Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
sie wohl sein, sinnierte er weiter und grinste. Vielleicht besaß sie tatsächlich Zauberkräfte – denn wie sonst war es möglich, dass sie ihn so sehr in ihren Bann zog? Eine Frage ging ihm allerdings nicht aus dem Sinn. Warum war sie noch bei ihm? Ein schönes, noch dazu kluges Weib wie sie würde in einer großen Stadt wie Hamburg sicher Arbeit finden und bald auch einen neuen Gemahl, der für sie sorgen konnte. Was ging nur in ihr vor?
Ein Rascheln neben seiner Schlafstätte erregte Baldos Aufmerksamkeit, und er öffnete widerstrebend die Lider. Es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich an das Zwielicht des nahenden Sonnenaufgangs gewöhnt hatten. Eine schmale, verhüllte Gestalt kniete auf dem Boden, kaum zwei Schritte von ihm entfernt. Cristin! Mit einem Schlag war er wach. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er beobachtete, wie sie ein Bündel verschnürte.
»Cristin«, flüsterte er, noch heiser vom Schlaf. »Wo willst du hin?«
Wortlos und mit einem Blick, der ihm durch Mark und Bein ging, drehte sie sich zu ihm um.
Er erhob sich, so schnell sein Bein es erlaubte, und packte sie an den Armen. »Rede mit mir! Was hast du vor?«
Ihre Augen glänzten feucht in der Dämmerung, und um ihren Mund zuckte es. »Ich gehe fort. Ich möchte dich nicht länger in Gefahr bringen.«
Baldo war die Kehle wie zugeschnürt. »Wo willst du denn hin?«
Sie reckte ihr Kinn. »Keine Sorge, ich komme schon zurecht, Baldo. Sie werden nach uns beiden suchen. Es ist besser, wenn jeder allein weiterreist.«
»Nein.« Mit einer ruckartigen Bewegung umfasste er ihr Gesicht und näherte sich ihr, bis ihre Nasenspitzen einander beinahe berührt hätten. »Du wirst nicht gehen, hörst du? Wir … bleiben zusammen. Ich werde dich beschützen.«
»Beschützen, du …« Cristin verzog den Mund zu einem leichten Lächeln, doch es passte nicht zu ihrem traurigen Blick. »Nein, Baldo, du hast sehr viel für mich getan. Dafür bin ich dir von ganzem Herzen dankbar und werde es mein Lebtag sein. Aber von nun an muss ich auf mich selber aufpassen.«
Als er nach ihrem Handgelenk griff, entzog sie sich ihm. »Ich werde tun, was ich für richtig halte, und jetzt lass mich gehen, bevor die anderen wach werden!«
»Du wirst nicht gehen, verdammt!« Baldo wollte sie an sich ziehen, trat dabei jedoch auf Lumps Schwanz, der laut aufjaulte.
»Was ist das hier für ein Lärm?«, polterte Mathes los, der plötzlich mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihnen stand. Zwischen seinen dunklen, in der Mitte fast zusammengewachsenen Augenbrauen bildete sich eine steile Unmutsfalte. »Ihr weckt mit eurem Streit alle auf. So werdet ihr euch hier keine Freunde machen.« Mathes deutete mit dem Daumen auf die schlafenden Personen neben der Feuerstelle. »Wir können hier keine Unbill gebrauchen, davon hat jeder von uns schon mehr als genug. Also haltet endlich die Klappe, wenn ihr weiterhin mit uns ziehen wollt!«
Baldo fuhr mit der Hand über sein bärtiges Kinn, darum bemüht, sich seine aufkommende Wut nicht anmerken zu lassen. Dann stieß er ein grimmiges Schnauben aus. »Hör mal zu, du …«
»Ist noch was?«, wollte der andere wissen.
»Adam«, hörte Baldo Cristin zischen. Ihre Wangen hatten eine zarte Rötung angenommen. Er schluckte den Rest der scharfen Entgegnung hinunter, die ihm auf der Zunge lag, und legte den Arm um ihre Schultern. »Wird nicht wieder vorkommen, nicht wahr, Schwesterlein?«
»Das hoffe ich«, erwiderte Mathes und zog sich zurück. Doch der lautstarke Wortwechsel war auch von den anderen Gauklern nicht unbeachtet geblieben. Michel feixte und meinte, dass es ab und an gut sei zu zeigen, wer der Mann im Hause wäre, und Irmela war aufgestanden und machte sich an der Feuerstelle zu schaffen.
»Magst du mir helfen, Agnes?«, rief sie zu ihnen herüber und zwinkerte ihr zu.
Cristin sah zu Boden, und Baldo drückte ihren Arm. »Bitte … lass uns später reden, ja?«
Wortlos machte sie sich frei und ging auf Irmela zu, um ihr bei der Zubereitung der Hafergrütze zu helfen.
Baldo fiel es schwer, seine Erleichterung zu verbergen. Cristins Vorhaben, das Lager unbemerkt zu verlassen, hatte er vorerst vereitelt.
13
E s war bereits später Vormittag, als Michel und Mathes an einem Holzhäuschen den Torzoll bezahlten und die beiden Wagen über die Mühlenbrücke nach Lübeck hineinlenkten. Während sie an dem mächtigen Dom vorbei – begleitet von den neugierigen Blicken zahlreicher Kinder, die den Wagen mit dem
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