Die Grabgewoelbe von Yoh-Vombis - Gesammelte Erzaehlungen Band 2
Allerdings war auch sie über die Maßen alt und schien einen Hauch des Altertümlichen auszustrahlen, stärker als jener, den Schnitt und Stoff schon hinreichend vermittelten.
Nein, es war das Gesicht dieses Mannes, das mich aus meinem Dämmerzustand riss und ihm meine faszinierte und ehrfürchtige Aufmerksamkeit sicherte. Mit den totenbleichen, tief verrunzelten Zügen, die wie geschnitztes Elfenbein aussahen, mit dem langen lockigen Haar und Bart, die so weiß waren wie mondbeschienener Nebeldunst, mit diesen Augen, die aus ihren tiefen Höhlen wie die Kohlen dämonischer Feuerstellen in den Kavernen der Unterwelt glühten, hätte er das lebende Vorbild für Charon abgeben können – den Fährmann, der die Toten über den schweigenden Styx in den Hades überführt.
Er schien aus einem Zeitalter und einem Land der klassischen Mythologie in das wimmelnde Lärmen jener Londoner Straße getreten zu sein. Der eigenartige Eindruck, den er auf mich machte, wurde durch seinen Habitus keineswegs gemildert. Ich achtete so wenig darauf, dass ich mich hernach an keine Einzelheiten zu erinnern vermochte; allerdings glaube ich, dass darin Schwarz vorherrschte, das mittlerweile vor Alter schon grün wurde und an das Gefieder eines unheimlichen Vogels erinnerte. Meine Verwunderung über das Erscheinungsbild dieses einzigartigen alten Mannes steigerte sich noch, als ich bemerkte, dass keinem der Passanten an ihm etwas Ungewöhnliches oder Sonderbares aufzufallen schien. Alle hasteten weiter ihres Weges, ohne ihm mehr als jenen kurzen Blick zu schenken, den man jedem beliebigen alten Bettler schenkt.
Ich selbst war stehen geblieben. Eine augenblickliche Faszination ließ mich auf der Stelle erstarren und ein Schrecken befiel mich, den ich weder begreifen noch bestimmen konnte. Der alte Mann hatte ebenfalls innegehalten, und ich bemerkte, dass wir etwas abseits vom Menschenstrom standen, der sich offenbar ganz in den eigenen Ängsten und Verlockungen verstrickt an uns vorbeiwälzte. Anscheinend hatte er erkannt, dass er meine Aufmerksamkeit erregt hatte, und bemerkte zudem die Wirkung, die er auf mich ausübte. Und so trat der alte Mann näher und setzte ein Lächeln auf, in dem eine furchtbare Bosheit lauerte, etwas Uraltes, namenlos Böses. Gern wäre ich davongeschritten, doch schien ich die Fähigkeit des Gehens spontan verlernt zu haben.
Neben mir hielt er an, maß mich mit dem Blick seiner kohlschwarzen Augen und sagte zu mir mit leiser Stimme, die kein Passant hätte hören können: »Wie ich sehe, finden Sie Geschmack am Grauen. Die finsteren und schrecklichen Geheimnisse des Todes, die gleichsam furchtbaren Mysterien des Lebens – sie erwecken Ihr Interesse. Wenn Sie mich begleiten wollen, werde ich Ihnen etwas zeigen, das die Quintessenz des Grauens selbst ist. Sie werden das schlangenköpfige Haupt der Medusa selbst erblicken – ebenjenen Kopf, der einst durch das Schwert des Perseus vom Rumpf geschlagen wurde.«
Ein unauslotbarer Schrecken erfasste mich bei diesen seltsamen Worten, die mit einem Akzent gesprochen wurden, der eher vom Geist als vom Gehör erfasst wurde. So unglaublich es auch klingen mag – ich bin mir nie ganz darüber im Klaren gewesen, welche Sprache er verwendete: Vielleicht war es Englisch, vielleicht aber auch Griechisch, das ich einwandfrei beherrsche. Seine Worte wurden von mir verstanden, ohne dass ich ihren tatsächlichen Klang oder ihre Sprachbeschaffenheit hätte benennen können. Die Stimme selbst – nun: Ich weiß nur, dass sie genauso gut den Lippen des Charon selbst hätte entweichen können. Sie war kehlig, tief und unheilvoll. In ihr war der Widerhall von Finsternis und lichtlosen Höhlen zu vernehmen.
Natürlich weigerte sich mein Verstand, näher auf die unerklärlichen Gefühle und Vorstellungen einzugehen, die mich in diesem Moment überfluteten. Ich redete mir ein, dass es bloße Einbildung war, dass es sich bei dem Mann um einen sonderbaren Verrückten handelte oder auch nur einen bloßen Schwindler, einen Schausteller, der sich auf diese Weise Kundschaft heranholte. Doch sein Aussehen und seine Worte hatten etwas grabesträchtig Seltsames an sich; sie schienen in überreichem Maße jene Absonderlichkeit und Bizarrerie zu verheißen, der ich einst nachgejagt und von der ich in London bislang kaum einen Hauch verspürt hatte. Daher antwortete ich ihm mit ernstem Tonfall: »In der Tat, das Haupt der Medusa würde ich sehr gerne sehen. Doch bisher hatte ich den Eindruck,
Weitere Kostenlose Bücher