Die Graefin Charny
still.
»Was gibt's denn, Weber?« fragte die Königin; »was geht im Schlosse vor, und was bedeutet der Lärm?«
»Es scheinen Unruhen in der Stadt ausgebrochen zu sein; man sagt, es sei ein Aufstand wegen des Brotes, jedoch die eingehenden Berichte widersprechen sich sämtlich.«
»Geh geschwind in die Stadt, Weber, überzeuge dich mit deinen eigenen Augen und dann erzähle mir, was du gesehen hast. Wenn der Doktor Gilbert sich meldet, so soll man ihn nicht warten lassen, Weber! er ist immer wohl unterrichtet und wird uns alles erklären, was vorgeht.«
Weber eilte auf die Brücke zu, folgte dem Menschenstrom und kam auf den Notre-Dame-Platz.
Das Geschrei wurde immer wilder, man hörte deutlich Rufe wie: »Es ist ein Kornwucherer! ... Zum Tode, an die Laterne mit ihm!«
Plötzlich wurde Weber in eine Seitengasse gestoßen; hier wälzte sich eine tobende Menge, in deren Mitte sich ein Mann verzweifelt wehrte.
Ein einziger Mann nahm ihn gegen die Menge in Schutz; es war Gilbert.
Unter der Volksmasse waren einige, die ihn erkannten und riefen:
»Den Doktor Gilbert müssen wir anhören.«
Es folgte eine kurze Ruhepause, die Weber benutzte, um sich bis zu dem Doktor einen Weg zu bahnen. »Herr Doktor Gilbert!« rief er.
»Ah, Sie sind's, Weber! – Sagen Sie der Königin, daß ich vielleicht später kommen werde, ich habe zuerst ein Menschenleben zu retten.«
»O ja!« sagte der Unglückliche, ein Bäcker namens Oenis François, der die letzten Worte hörte: »Sie werden mich retten, nicht wahr, Doktor? ... Sagen Sie den Leuten, daß ich unschuldig bin; sagen Sie ihnen, daß meine junge Frau schwanger ist ... Ich schwöre Ihnen, Doktor, daß ich kein Brot versteckt habe!«
»Freunde!« rief Gilbert, der sich mit übermenschlicher Kraft gegen die Wütenden wehrte, »dieser Mann ist ein Franzose, ein Bürger wie ihr, man kann, man darf einen Menschen nicht morden, ohne ihn anzuhören ... Führt ihn zu den nächsten Bezirkskommissaren, und das Weitere wird sich finden.«
Inzwischen waren vier bis fünf Personen dem Doktor zu Hilfe gekommen und hatten den Unglücklichen umstellt, um ihn gegen die Wut des Volkes zu schützen.
Glücklicherweise waren in dem allgemeinen Lärm alsbald die Worte zu verstehen:
»Da kommen die Bezirkskommissare!«
Die Drohungen verstummten; die Menge machte den Beamten Platz. Man führte den Unglücklichen zum Stadthause.
Der erbitterte Pöbel war nicht abzuwehren, ein Teil drang mit in das Stadthaus. Kaum war der arme François unter dem Portal des Stadthauses verschwunden, wurde das Gebrüll draußen immer lauter und drohender.
»Es ist ein vom Hofe bezahlter Kornwucherer; deshalb will man ihn retten.«
Zum Unglück war es noch sehr früh am Tage, und keiner der Männer, die das Volk in der Gewalt hatten, weder Bailly noch Lafayette, waren da. Die Aufwiegler stürmten in das Stadthaus und drangen in den Saal, wo sich der unglückliche Bäcker unter Gilberts Schutz befand.
Die Nachbarn des Angeklagten, die inzwischen herbeigeeilt waren, erklärten einstimmig, daß er seit dem Anfange der Revolution den größten Eifer an den Tag gelegt, daß er täglich bei zehnmal gebacken und selbst einigen anderen Bäckern Mehl überlassen habe.
Plötzlich stürmt eine wütende brüllende Rotte in den Saal, durchbricht die Reihe von Nationalgardisten, die den unglücklichen François umgibt, und trennt ihn von seinen Beschützern. Von diesem Augenblicke an ist er verloren. Er wird die Treppe hinuntergeworfen, und auf jeder Stufe bekommt er eine Wunde; als er unter dem Portal erscheint, ist sein Körper fast zerschmettert.
In einer Sekunde ist der Kopf des unglücklichen François vom Rumpfe getrennt und sitzt auf der Spitze einer Pike.
Niedergeschlagen ging Gilbert von dannen. Plötzlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter; vor Überraschung stieß er einen leisen Schrei aus; der Mann, den er erkannt hatte, schob ihm ein Billett in die Hand, legte einen Finger auf den Mund und entfernte sich in der Richtung des erzbischöflichen Palastes.
Der Mann wünschte ohne Zweifel unerkannt zu bleiben, aber ein Marktweib erkannte ihn und rief in die Hände klatschend:
»Es lebe Mirabeau, der Verteidiger des Volkes!«
Als die Letzten des Zuges, der dem Kopfe des unglücklichen François folgte, dieses Vivatrufen hörten, kehrten sie um und begleiteten Mirabeau jubelnd bis an den erzbischöflichen Palast.
Nunmehr las Gilbert das Billett, das ihm Mirabeau zugesteckt hatte, zweimal durch und
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