Die Graefin der Woelfe
ich vor ein paar Nächten einen langen Spaziergang unternommen. Dabei ist mir einiges klar geworden.« Sie wollte weitersprechen, doch ihr Mund klappte beinahe von selbst zu, als der Mediziner sich mit großen Schritten auf sie zubewegte und erst unmittelbar vor ihr stehen blieb. Er baute sich vor ihr auf und fasste, ohne eine Erlaubnis einzuholen, nach ihrer Hand.
»Frau Gräfin, auch wenn es sich nicht geziemt, so bitte ich Sie, hören Sie mir zu. Ich habe Ihnen etwas äußerst Wichtiges mitzuteilen. Es duldet keinen Aufschub«, drängte er.
Amalias Kopf schnellte in den Nacken. Verwundert musterte sie sein Gesicht. So etwas war ihr noch nicht passiert. Sie entzog ihm die Hand und zeigte auf den freien Stuhl. »So setzen Sie sich doch und reden Sie, um Gottes willen. Was ist denn los?«
»Ich weiß nicht, wie viel das alles mit dem Willen Gottes zu tun hat, Frau Gräfin.«
Amalia spürte eine dumpfe Unruhe aufkommen. Die Art, wie er sprach, wie er sie ansah und wie seine Hand zitterte, wirkte beunruhigend. Erneut erhob er sich und durchmaß die Kammer mit seinen Schritten.
»So reden Sie doch. Um der Liebe Christi willen, reden Sie!« Amalia versuchte, ihre Angst hinunterzuschlucken. Was konnte er ihr schon antun?
»Ich habe es mir nicht leicht gemacht. Noch niemals in meinem Leben musste ich eine Diagnose so gründlich überprüfen. Aber gestern Nacht habe ich den endgültigen, unwiederbringlichen Beweis erhalten. Frau Gräfin, ich weiß nun zweifelsfrei, an welcher Krankheit Sie leiden.« Sein Gesicht war finster, Schweißperlen glänzten auf seiner Oberlippe. Was immer er gefunden zu haben glaubte, es war nichts Gutes. Amalia hörte das Blut in ihren Ohren rauschen.
»Und?«, flüsterte sie.
Erasmus blickte sie aus klaren Augen an. Seine Stimme klang dunkler als gewöhnlich, als er seine Diagnose stellte. »Sie haben die Vampirkrankheit, Frau Gräfin. Es gibt keinen Zweifel.«
Amalia starrte den Arzt an und ein spöttisches Lächeln drängte in ihre Mundwinkel. Das war nun wirklich unmöglich. Schließlich wusste ein jeder, dass Vampire tot waren und sie war lebendig, äußerst lebendig sogar. Beinahe hatte sie Mitleid mit dem Wissenschaftler.
»Setzen Sie sich doch, Doktor von Spießen. Sie sind ja völlig überarbeitet.«
Amalia stand auf und füllte ihm eigenhändig ein Glas mit verdünntem Wein. Sie spürte, wie sich Erleichterung in ihr breitmachte. Nicht sie war die Kranke!
»Nein, Frau Gräfin.« Erasmus wedelte mit der Hand, ohne das Glas entgegenzunehmen und ohne sich zu setzen.
Das Lächeln schwand, Wut machte sich breit. »Wie können Sie es wagen?« Jetzt stand Amalia genau vor ihm. Sie war größer als der Doktor und nun stand sie da und blickte ihn von oben herab an.
»Es war der Jäger!« Erasmus sprach leise, jede Silbe betonend. »Sie haben ihn in der vorletzten Nacht unschädlich gemacht. Er muss Sie infiziert haben.«
»Jakobus?« Amalia setzte sich. Was war mit Jakobus? Hatte sie nicht an seinem Grab die Kraft und Ruhe gefunden, die ihr so viele Monate schon fehlte?
»Der Jäger war ein Wiedergänger. Es gibt keinen Zweifel. Sie haben seinen Leichnam ausgegraben.« In Erasmus’ Stimme klang keinerlei menschliche Regung.
Amalia presste eine Hand vor den Mund, wollte nicht hören, was der Doktor unerbittlich in hämmerndem Stakkato vortrug.
»Er hatte Blut auf seinem Kragen, auch sein Hemd war blutverschmiert. Sein Körper war dick geworden. Als sie ihm den Pflock ins Herz stießen, trat frisches Blut aus seinem Mund.«
Amalia hörte die Worte des Doktors nicht mehr. Sie zitterte und fühlte, wie Eiseskälte von ihr Besitz ergriff. Endlich kam die Ohnmacht; sie spürte, wie sich ihre Empfindungen abschwächten. Willig tauchte sie in die kühle Schwärze des Vergessens.
*
Als Marijke die Küche betrat, fand sie Lucia und Jelko am Tisch sitzen. Die Magd weinte hemmungslos, und selbst Jelko hatte Tränen in den Augen. Der kleine Jelko saß zu Füßen seiner Eltern und blickte verängstigt von einem zum anderen.
»Was ist hier los?«, fragte sie unwirsch.
»Es sind alle fort.« Lucia hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. Marijke blickte um sich. Weder Marie noch Marthe waren zu sehen. Fragend richtete sie ihre Augen auf Jelko.
»Lucia und ich sind die Einzigen, die noch da sind«, beschied er knapp.
Marijke hielt sich an einer Stuhllehne fest. Sie hätte damit rechnen müssen. Immer mehr Dienstpersonal war gegangen, niemand hatte sie aufgehalten oder sich
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