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Die große Flut

Die große Flut

Titel: Die große Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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Vater glaubt, daß nämlich die Nephilim mit den Seraphim verwandt sind, dann gleichst du den Seraphim.«
    »Beeilt euch!« drängte Anah ungeduldig.
    »Wir kommen ja schon!« rief O-holi-bamah. Und sie strebten dem jenseitigen Ende der Oase zu, wo Noahs Weingärten und seine Weidegründe lagen. Und wo der Den sie erwartete.
    Der Mond ging unter. Der weiße Wüstensand verschattete. Die Sterne zogen ihre Bahnen über den Himmel. Der Horizont war dunkel von jener tiefen Schwärze, die der Dämmerung vorangeht.
    Ein Aasgeier kam scheinbar aus dem Nichts geflogen, reckte seinen nackten Hals, legte die Flügel an.
    Uns Aasgeier unterschätzt man. Gäbe es uns nicht, würden Krankheit und Seuche alles Leben auslöschen. Wir reinigen die Abfälle, die Exkremente, die Kadaver von Mensch und Tier. Man schätzt uns nicht.
    Kein Laut war zu hören, und doch hingen die Worte als stummes Kreischen in der Luft.
    Ein Skarabäus buddelte sich aus dem Sand, ein glitzerndes Pünktchen. So ist es. Ihr haltet die Erde rein. Ich schätze euch. Und verkroch sich wieder.
    Ein Krokodil kroch unbeholfen durch die Wüste, fern dem heimatlichen Tümpel. Eine Drachenechse folgte ihm, spreizte voll Hochmut die lederhäutigen Flügel. Eine dunkle Schlange mit abgeplatteter Haube ringelte sich an ihrer Seite.
    Ein kleines Wesen mit einem braunen Rückenpanzer, ein Ding, kaum größer als der Skarabäus, krabbelte neben der Schlange her. Wir sind unverwundbar, wir haben das Feuer der Vulkane überlebt. Die Erdbeben, deren Gewalt die Kontinente auseinandertrieb und die Gebirge auffaltete. Wir sind unsterblich. Wir übersäen den Planeten.
    Eine Fledermaus, heller noch als Gold, zog über dem Kakerlaken enge Kreise. Du bist stolz. Du hast Feuer und Eis überlebt, aber wenn es sein müßte, könnte ich dich fressen. Ich hoffe, es muß nie sein. Und flatterte davon, ein goldenes Aufblitzen in der Finsternis.
    Eine winzige Imitation des Krokodils, sein Zerrbild, aber mit platter Schnauze, ein Skink, begleitete die Drachenechse. Ich bin klein und flink, mein Fleisch ist ungenießbar. Ich bin, was ich bin. So wurde ich erschaffen.
    Auf dem Rücken des Skinks saß ein Floh und bohrte sich beharrlich in den Rückenpanzer. Auch ich bin, was ich bin.
    Ein schrilles Sirren schnitt durch die Luft: das Dröhnen der Stechmücke. Auch ich, auch ich. Ich mäste mich an eurem Blut.
    Ein schleimiger Wurm krümmte sich zwischen den Sandkörnern und hinterließ eine dünne Spur. Dahinter: die breite Bahn einer Schnecke. Ich bin kein Wurm. Ich habe ein Haus. Ich bin mir selbst genug.
    Eine rote Ameise verbiß sich im Flügel der Drachenechse, um nicht abgeschüttelt zu werden. Eine Ratte, geschmeidig und wohlgenährt, mit vibrierender Schnauze, vibrierenden Barthaaren, starrte den nackten Hals des Aasgeiers an. Auch ich ernähre mich vom Unrat der Straße. Ich fresse Fleisch. Frisches Fleisch ist mir am liebsten, aber ich nehme, was kommt. Auch ich halte die Welt rein.
    Kein Laut war zu hören. Wie schwarzes Licht klirrten die Worte in die Wüstennacht.
    Die seltsame Versammlung der zwölf Geschöpfe. Sie bildeten einen Kreis. Die Nephilim.
    O-holi-bamah lag auf einem großen, flachen Stein in Japheths Armen. Sie waren eine kleine Strecke Wegs in die Wüste gegangen. So innig hielten sie einander, daß sie den Löwen nicht bemerkten, der an ihnen vorbeischritt, den Pelikan, der über den Himmel flog, den Skarabäus, der aus dem Sand kam.
    »Liebstes«, flüsterte Japheth O-holi-bamah ins Ohr, »davon sprach meine Mutter schon vor langer Zeit. Sollte wirklich das Blut der Nephilim in deinen Adern fließen, erklärt sich so deine heilende Macht.«
    »Aber ich weiß ja nicht… Mir fehlt die Gewißheit…«
    Japheth preßte seinen Mund auf ihre Lippen. Ließ von ihr nur ab, um zu sagen: »Du bist mein Weib, und wir sind eins, und nichts anderes zählt.«
    Und sie wurden eins. Und es war gut so.
    Yalith verließ das Zelt, um in der Wüste den Morgen zu erwarten. Behutsam und geduldig hatte sie soeben den Den gepflegt, hatte die abgestorbenen Hautfetzen gelöst. Die Narben darunter näßten kaum noch, begannen zu verheilen. Mittlerweile hatte O-holi-bamah ihr die Pflege des jungen Riesen fast ausschließlich anvertraut, ging nun wieder den eigenen Pflichten nach.
    Der Mond war untergegangen, die Sterne standen tief am Horizont. Yalith liebte es, in der Kühle vor Tagesanbruch auf einem Felsen zu sitzen und dem Gesang der Sterne zu lauschen. Großvater Lamech hatte es sie

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