Die große Verschwendung
Geländers umfasst hielt.
»Leben? Nun ja, zeitweise. Ich – habe ein Apartment unten in der Stadt, bin aber sehr viel für die Firma unterwegs.«
Wieder, genau wie am Morgen während ihrer kurzen Vorstellung, fiel ihm die Stimme auf. Dunkel und samtig war sie. Die Wörter kamen aus ihrem Mund, als hätten sie zuvor einen Moment gezögert. Nach dem »Ich« war eine deutliche Pause entstanden, so, als müsse sie sich zunächst Klarheit darüber verschaffen, wie es weitergehen sollte.
»Dann sind Sie ja vermutlich häufig hier oben.« Glabrecht zog seine Schultern zusammen und demonstrierte ein Frösteln.
»Ja«, sagte sie.
Sie schloss mit der rechten Hand den Ausschnitt ihrer Strickjacke am Dekolleté, als sei gerade ein besonders kühler Windstoß gekommen, und schaute Glabrecht jetzt ein paar Sekunden lang in die Augen. »Man macht hier oben Sport, Laufen und Mountainbike-Fahren im Sommer, im Winter Skilanglauf.«
Sie hatte den Satz beendet, ohne ihren zu Glabrechts Gesicht hin erhobenen Kopf zu senken, so, als wolle sie nach einer kurzen Pause weitersprechen, was sie aber nicht tat. Glabrecht hatte bemerkt, dass ihr linker Augapfel ein wenig aus seiner korrekten Richtung geraten war, mitten im Satz, nur sehr kurz, ein kurzer Silberblick hatte das Auge befallen. Glabrecht drehte seinen Kopf nach vorne. Der ins Land geschnittene Fjord da unten, mit seinen der Stadt vorgelagerten Inseln, die Wasserfläche, die Schiffe, von denen einige hell in der Sonne leuchteten, – das alles schien plötzlich in optimaler Weise der Situation zugeordnet, in der man sich befand.
»Ich – finde, das könnte auch ein kalter Strom auf seinem Weg ins Meer sein«, sagte Adriana. »Ja.«
Sie schaffte es, diesem »Ja« trotz seiner Kürze eine abfallende Tonmelodie zu geben, so, als laufe während der Zeit, die zum Aussprechen des Wörtchens nötig war, ein sehr komplexer Denkprozess ab, eine Prüfung und Selbstversicherung dessen, was vorher gesagt worden war. In diesem Fall schien sie zu überlegen, ob der Vergleich gelungen war – oder nicht.
Der Horizont, hinter dem der Fjord auf seinem Weg verschwand, lag im Dunst versunken. Alles Mögliche konnte hinter diesem Dunst liegen, unter anderem auch das Meer.
Die beiden sprachen dann eine Weile miteinander. Sie hatte Betriebswirtschaft studiert und eine Zusatzausbildung für Kulturmanagement gemacht, anschließend eine Serie von Praktika – »das Übliche eben« –, am Ende einen Job als Fremdenführerin für deutsche Touristen in Oslo angenommen, schließlich einen Zweijahresvertrag bei der Nordic Urban Development erhalten. Ihre Mutter war Norwegerin, deswegen sprach sie die Landessprache fließend.
»Und – was halten Sie von unserer Maritimen Oper , von dem ganzen Projekt?«, fragte Glabrecht.
Adriana drückte Grübchen neben ihre Mundwinkel, schwieg, zuckte kurz mit den Schultern.
»Unsere neue Oper hier in Oslo ist jedenfalls ein großer Erfolg. Und in Reykjavik, ja, da bauen die Isländer etwas ganz Ähnliches, direkt am Meer.«
»Nun gut«, sagte Glabrecht, »entschuldigen Sie. Was sollen Sie auf meine dumme Frage antworten?«
»Nein«, Adriana lachte ihn an, »ich mache mir ja ebenfalls meine Gedanken, glauben Sie mir. Irgendwo müssen ja auch all die Kunden herkommen – für diese ganzen Freizeitangebote.«
Sie gingen nun zusammen in den Konferenzraum. Gegen vier hatte man das Schlusskommuniqué unterzeichnet.
Abends beim Dinner erzählte sie ihm von ihrer Kindheit in Argentinien.
»Das wären dann Deutsch, Spanisch, Englisch und Norwegisch?«, sagte Glabrecht.
»Und ein wenig Französisch. – Ja.«
Adriana zog die hohe Stirn kraus und lachte, in einer Geste demonstrativer kindlicher Verlegenheit. Glabrecht saß ihr gegenüber, trank Rotwein und wollte alles von ihr wissen, in einer Weise, als könnte die Geschichte ihres Lebens sein eigenes bereichern und verbessern. Adrianas Vater war Professor für Deutsche Literatur an der Universidad de Buenos Aires gewesen. Sie war dreizehn, als er, mit Anfang Fünfzig, an einem Herzinfarkt starb.
An dieser Stelle der Erzählung, deswegen nämlich, weil er sie sehr genau fixierte, um etwas über ihre Emotionen zu lernen, fiel Glabrecht auf, dass er über die genaue Fokussierung ihrer Augen zu keiner Zeit Bescheid wusste und sich sogar fragte, ob es überhaupt exakte Zielpunkte ihrer Blicke gab. Er jedenfalls, genauer gesagt, seine Augen, fühlten sich fast niemals passgenau von ihnen erfasst. Hatte das vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher