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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schoemel
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neun Uhr, als man zum Meeting zusammengekommen war, hatte Adriana ihn zweimal angelächelt, an den Köpfen der anderen vorbei, und beim zweiten Mal sogar den eigenen Kopf ein wenig gekippt, um Glabrecht sehen zu können. Wer war diese Frau? Ihr Auftauchen hatte Glabrecht kalt erwischt. Mit allem hatte sein morgendlicher, von sich selbst erschöpfter innerer Aufruhr gerechnet, aber nicht mit der Anwesenheit einer schönen Frau. Das war eine vollkommen unerwartete und überaus anstrengende Situation, mit der er sich da konfrontiert sah. Jeder Redebeitrag, die PowerPoint -Präsentation im halbdunklen Raum, überhaupt alles, das ganze lausige Projekt, das er zu verhandeln hatte, war von diesem kleinen Flirt getränkt oder eingefärbt. Hätte er je vergessen gehabt, was allein ihn tatsächlich interessierte, hier wäre es ihm wieder einmal demonstriert worden.
    Und Glabrecht hatte mit der albernen Frage gespielt, was die Männer überhaupt noch tun würden, wenn ein Virus zum kompletten, weltweiten Aussterben aller Frauen führen würde. Zweifellos würden die Männer trauern, aber anschließend niemals wieder solche Sitzungen durchführen, Anzüge tragen oder Theater besuchen. Endlich wären sie frei, erlöst von der Existenz der Frau und damit vom lebenslangen Kampf um die Erlangung der allgemeinen und speziellen Penetrationserlaubnis. Der Mann könnte sich anderen Dingen widmen. Vielleicht würde er weiter Autos bauen, Flugzeuge und Bälle aller Größen, Jagd- und Sportartikel und auch Abspielgeräte und Archive für die riesigen und sorgsam gehüteten pornographischen Schätze, den Vollendern der onanistischen Freiheit? Pornographie ohne lebende Frauen! Das könnte tatsächlich den Frieden bringen.
    Aber was halfen diese Gedanken? In Wahrheit hatte er anschließend die gesamten drei Stunden der Morgensitzung hindurch auf eine neue gnadenreiche Spende aus den Augen der jungen Frau gewartet, die er auf knapp über dreißig schätzte und die, von der obligatorischen kurzen Vorstellung ihrer Person abgesehen, nichts sagte. Sie notierte den Ablauf und hielt auf ihrem Notebook Daten und Tabellen bereit. Vor ihr stand das Tischschild mit ihrem ungewöhnlichen Namen, mit diesen vier »A«s, die am Namensende resigniert vor dem »Horn« hinsanken: Adriana Fallhorn, ein Name wie ein Glücksversprechen!
    Aber es hatte keinen dritten Augenkontakt gegeben, nur noch Blicke, die Glabrecht kurz streiften, wenn er selbst sprach, und dazwischen lagen Minuten, in denen sie überhaupt nicht in seine Richtung geschaut hatte. Manchmal, wenn ein anderer redete, hatte er Gelegenheit, ihr Gesicht minutenlang zu studieren und sich einen schönen Schmerz einzureden, der um ihren Mund lag und leider nicht darauf wartete, dass einer wie Glabrecht des Weges kam, um ihn zu adoptieren. Oder etwa doch?
    Wie sie da, mit geringem Abstand zueinander, draußen am Balkongeländer standen und Glabrechts Anmutung, wie er hoffte, vielleicht ein wenig profitieren konnte von der jugendlichen Frische und reifen Erhabenheit der Landschaft, vergingen zwei, drei Minuten, in denen er mehrfach nach links, an dem Holzpfeiler vorbei, in Adrianas Gesicht blickte. Sie musste das bemerkt haben, aber sie schaute stur geradeaus. Die brünetten, offenbar naturgewellten Haare, die sich am auffällig geraden Haaransatz über der Stirn sofort zu kräuseln begannen, waren auf dem Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre Augen, die er vormittags studiert hatte, waren leicht von den Lidern verhangen, leuchtend blau und eher klein, jedenfalls im Verhältnis zu der recht großen Nase und dem Mund mit jenem eingeredeten oder tatsächlichen Schmerz. Sie trug ein Sommerkleid, wie man es heutzutage selten sah. Es erinnerte Glabrecht an die Kleider, die seine Mutter auf Fotos aus den späten fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts trug, floral gemustert, wie es war, mit Rundausschnitt und kurzen, aber weiten Ärmeln, allerdings nicht mit glockigem, sondern engem Rock, der kurz über den Knien endete. Jetzt zog sie sich, dabei weiter geradeaus schauend, eine blassgelbe Strickjacke über. Glabrecht registrierte ungewöhnlich gerade und schlanke Unterschenkel, Schuhe mit kleinen, aber spitzen Absätzen.
    »Leben Sie in Norwegen?«, sagte er in ihr Profil hinein. Sie trat sofort ein wenig zurück, wandte sich dabei lächelnd und wohl auch ein wenig erleichtert zu ihm hin, schaute aber nicht in sein Gesicht, sondern auf die Hände, mit denen er das warme Holz des

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