Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
im Stich lasse.
* Da lang!* Ich zeige geradeaus. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, biegt der Hirsch in den breiten Pfad zwischen den Bäumen und galoppiert los.
* Schneller! Schneller!* , feuert ihn der General an.
Ich blicke über die Schulter. Nur niedergetrampeltes Gebüsch, sonst nichts. Der Hirsch prescht weiter.
* Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?* , ruft er.
* Ja, ja* , rufe ich zurück. Der Wind pfeift in meinen Ohren und ich bin ganz in diesem Augenblick gefangen.
Und tatsächlich – vor uns lichtet sich der dunkelgrüne Tunnel. Die Dornen und Schlingen, die sich wie Fallstricke quer über unseren Weg spannen, werden weniger. Vielleicht habe ich ja recht. Vielleicht habe ich tatsächlich den Weg nach draußen erraten.
»Sag einfach was«, war immer Pas Ratschlag. »Auch wenn dir gerade nichts … na ja, rate einfach.«
Die Luft ist jetzt eindeutig weniger drückend. Ich spüre sogar eine warme Brise. Die Reihen lichten sich, immer mehr Bäume liegen am Boden. Plötzlich stößt der Hirsch einen scharfen Warnruf aus. Er bremst mitten im Lauf hart und rudert mit den Hufen in der Luft wie ein scheuendes Pferd.
Ich kralle mich in sein Fell und presse die Knie gegen seine Flanken, um nicht herunterzufallen.
Er strauchelt, stemmt seine Hufe in den Boden, und als ich mich aufrapple, sehe ich auch, warum. Der Pfad zwischen den Bäumen ist zu Ende, wir können keinen Schritt weiter. Hinter uns liegt ein Gewirr aus umgestürzten Bäumen und wildem Dickicht, vor uns eine von Dornengestrüpp überwucherte Felskante – und dahinter ein Abgrund, der Hunderte Meter tief in einer Schlucht endet, durch die ein Fluss donnert.
Ein Zweig knackt. Langsam drehe ich mich um.
Aus den Schatten der Bäume treten die Wölfe, im Halbkreis kommen unsere Jäger geduckt auf uns zu. Auf uns und die Klippe am Ende ihrer Welt.
Einen Augenblick lang höre ich nur das donnernde Wasser in der Tiefe und das rauschende Blut in meinen Ohren. Der Anführer des Wolfsrudels tritt vor. In seiner Stimme liegt noch ein Knurren, aber sein Tonfall ist jetzt versöhnlicher.
* Edle Wildnis! Ich suche keinen Streit mit dir. Gib das Menschenkind auf, dann kannst du in Frieden zu uns zurückkehren .*
Der Hirsch antwortet nicht sofort. Sein Blick geht ins Leere, seine Nüstern beben. Atemwölkchen steigen auf.
* Wächter, du weißt, dass ich der Letzte meiner Art bin .*
* Ja, Große Wildnis, deshalb werden wir dich auch am Leben lassen. Wir haben lediglich die Pflicht, das Letzte Wild zu beschützen und die Ordnung der Natur zu bewahren .*
Der Hirsch dreht sich vorsichtig um und richtet den Blick auf die triefenden Mäuler der Wölfe. Sogar das halbstarke Wolfsjunge sieht aus, als könne es den Hirsch mit einem Bissen in Stücke reißen. Als der Hirsch zu sprechen ansetzt, liegt etwas Neues in seiner Stimme – Zorn.
* Ja, eine natürliche Ordnung, wie sie euch passt. Eine Ordnung, in der wir eure Beute sind. Aber jetzt stehen wir alle einer viel größeren Gefahr gegenüber als euch. Deshalb haben wir unsere Kräfte vereint und die Hilfe der Menschen gesucht .*
Der Graue Wolf schüttelt verärgert den Kopf.
* Wir werden diese Gefahr überleben, so wie wir alle anderen Bedrohungen überstanden haben. Warum vertraust du nicht mehr auf die Macht der Natur?*
* Du weißt so gut wie ich, dass diese Gefahr anders ist als alles, was wir je erlebt haben. Sie wird unser Schicksal besiegeln, wenn wir uns nicht mit den Menschen verbünden .*
*Ich möchte ein so weises und edles Wesen wie dich nicht töten .* Der Wolf spannt seine Muskeln, als wolle er jeden Moment losspringen. * Aber du lässt mir keine Wahl. Wirf das Kind ab und wir lassen dich in Frieden ziehen .*
Der Hirsch macht einen kleinen Schritt zum Felsgrat hin. Unter seinen Hufen lösen sich Kieselsteine und poltern in den Abgrund, das Echo hallt weit über die Schlucht.
Der Graue Wolf verliert langsam die Geduld, dennoch unternimmt er einen letzten Versuch.
* Ich sage es dir zum letzten Mal, Große Wildnis. Lass die Tiere Tiere und die Menschen Menschen sein. So haben wir es immer gehalten. So haben wir bis heute überlebt .*
*Aber das ist jetzt vorüber*, erwidert der Hirsch.Er wirft einen Blick zum Himmel und will noch etwas hinzufügen, als aus den Wipfeln über uns ein lautes Rauschen zu hören ist.
Unwillkürlich blicken alle nach oben. Die Grauen Tauben kommen durch das Blätterdach geflattert und lassen sich auf den Ästen über uns nieder.
* Ein Weg nach
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