Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
falsche Prioritäten setzen und zu viel über Frauenfragen und Frauenlöhne quatschen und zu wenig Geld für Fußballplätze und Eishockeystadien geben und was es sonst noch war. Und sie gingen an die Decke, als sie entschied, daß der gesamte ambulante Hilfsdienst zu einer Konferenz nach Tallinn fahren würde. Sie fahren schon jetzt am Montag, sonst hätten Hans und Arne die Reise abgesagt. Aber Mama war ja populär, sie konnten sie also nicht loswerden. Ich war die ganze Nacht auf und habe ein Band mit Musik aufgenommen, die sie mochte, damit nicht nur »Söhne der Arbeit« und so was gespielt wird. Hörst du?
Leise Musik war aus zwei Lautsprechern weiter hinten im Saal zu hören, und jetzt summte Maria mit. Sophie erkannte das Lied und die klaren Kinderstimmen: »Die Freiheit ist nahe / die Zeit ist jetzt reif / wir Frauen erwachen / oh, alle lieben Schwestern, der Tag ist jetzt endlich hier …«
– Es hat ihnen nicht gefallen, sagte Maria, aber ich habe sie überredet.
Mit ihrem kampflustig gehobenen Kinn und dem bestimmten Zug um ihren Mund ähnelte sie plötzlich stark der jungen Birgitta.
– Birgitta wäre stolz auf dich gewesen, sagte Sophie. Aber geht es mit Christer?
– Du meinst, ob er wieder anfängt zu trinken, sagte Maria leise, ja, die Gefahr besteht. Deshalb ist er jetzt nicht hier, ich habe ihn zu einem Treffen mit anderen trockenenen Alkoholikern geschickt.
Jemand rief Sophies Namen. Sie drehte sich um und begegnete einem kleineren Blitzlichtgewitter. Eine Gruppe Reporter und Fotografen war ins Rathaus gekommen.
– Sophie Lind, sagte ein Reporter von einer der Reichszeitungen verblüfft, was machst du hier?
– Birgitta Matsson war eine Freundin von mir, sagte sie, wir haben uns in den siebziger Jahren in der Frauengruppe in Hammarås kennengelernt. Ich kann gar nicht genug zum Ausdruck bringen, was für ein furchtbarer Verlust ihr Tod ist, nicht nur für ihre Familie und ihre Freunde, sondern auch für Hammarås und die schwedische Politik.
Wollten sie Lobesworte über Birgitta Matsson, sollten sie sie haben, dachte sie. Sie posierte mit seelenvoller Miene am Kondolenztisch, mit und ohne Maria, und hielt dann eine improvisierte Pressekonferenz ab, bei der sie ihre Erinnerungen aus ihrer und Birgittas gemeinsamen Zeit als junge, alleinstehende Mütter in Hammarås zum besten gab, sich wohl bewußt, wie gut sich das in den Zeitungen machen würde.
Dann sah sie sich nach Daniel und Greta um. Sie waren nirgends zu sehen.
– Hast du gesehen, wo Daniel abgeblieben ist? fragte sie Maria. Das Mädchen lächelte dünn.
– Er hat Tante Greta mit sich rausgezerrt, kaum daß er die Fotografen gesehen hat, sagte sie. Du weißt, wie er Publicity verabscheut.
Sophie fand Daniel und Greta am Auto. Daniel hatte eine kleine Mißfallensfalte zwischen den Augenbrauen, aber die Bischöfin lächelte ihr zu.
– Wie gut, daß du mit den Zeitungen geredet hast, sagte sie, ich hoffe, du hast etwas richtig Schönes über Birgitta gesagt.
Es war zu merken, daß Gretas neue Medikamente Wirkung hatten. Sie wirkte jetzt klarer und verlor nicht so leicht den Faden. Auf der Heimfahrt nach Granåker schwelgte sie in Erinnerungen. Sie hatte Birgitta Janols seit 1955 gekannt, als das Ehepaar Lidelius zum Pfarrhof in Granåker zurückgekehrt war und angefangen hatte, auf dem kleinen Bauernhof von Birgittas Eltern Milch und Eier zu kaufen.
– Und dann, als sie mit der Schule fertig war, kam sie ja als Haushaltshilfe zu uns in den Pfarrhof, sagte sie, das war ein richtiges Karussell! Wie sie die ganze Zeit sang und arbeitete und Geschichten erzählte, und wie sie mit Aron schimpfte, wenn er überall Zigaretten qualmen ließ oder vergaß, die Galoschen auszuziehen, oder seine Sachen nicht aufhängte. Aber das war gewissermaßen Birgitta Janols in nuce, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war – sie sagte es ganz direkt, wenn etwas nicht stimmte, und wich vor niemandem zurück.
Sophie dachte an ihre letzte Begegnung mit Birgitta, nicht an das »Macbeth«-Zitat, das sie, das fühlte sie, für den Rest ihres Lebens bereuen würde, sondern an das, was die Freundin gesagt hatte, als sie ins Taxi stieg. Hatte sie nichtgesagt: »wenn mir was passiert«? Wenn ihr etwas passierte, sollten Sophie und Thomas Greta fragen, was aus dem anderen Bild geworden war, das über dem Kamin hing. Sie hatten schon einmal gefragt, und da hatte die Bischöfin … ausweichend geantwortet. Ja, dachte Sophie, ausweichend, als ob da
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