Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
danach zu fragen, und dann war es zu spät. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich ihr geantwortet hätte. Ich sah in meinem Schweigen nichts Böses, und ich will, daß du verstehst, warum ich geschwiegen habe.
Weißt du, Sophie, ich habe mich überhaupt nicht gefreut, als Aron und ich zum zweiten Mal nach Granåker gezogen sind. Ich war zehn Jahre älter, als du jetzt bist, nicht jung, aber auch nicht alt. Es gefiel mir, Bischofsfrau zu sein und im Bischofssitz zu leben, es gab viel zu tun und vieleinteressante Menschen zu treffen, man konnte in Kunstausstellungen gehen und Theatervorstellungen besuchen. Aron war zufrieden, wenn er sich seiner Forschung widmen konnte, aber ich empfand Granåker als so klein. Und ich dachte so viel an Johan, meinen kleinen Johan, den ich verloren habe. Wir zogen ja nach Uppsala in dem Jahr, in dem er starb, aber es war hier im Pfarrhof, wo er lebte und starb, und plötzlich zurückzukommen riß all meine Erinnerungen auf. Ich ging im Garten umher, wo er gespielt hatte, und sah die Schaukel, auf der er geschaukelt hatte, und saß in der Fensterlaibung, wo ich ihm Märchen vorgelesen hatte, und es war ein Gefühl, als hätte ich ihn gerade erst verloren. Eines Tages, als ich auf den Dachboden ging, fand ich den Korb, in dem er als Säugling gelegen hatte, und war völlig außer mir. Ich meinte sogar, der Geruch meines kleinen Jungen war noch in der Matratze. Ein paar Monate war ich überhaupt nicht ich selbst, mußt du wissen.
– Du warst vielleicht deprimiert, sagte Sophie.
– Liebes Kleines, sagte die Bischöfin, die Leute waren nicht deprimiert in dieser Zeit. Entweder packten sie sich beim Kragen und rafften sich auf, oder sie wurden total verrückt und wurden eingesperrt.
Sophie lächelte.
– Und du hast dich natürlich beim Kragen gepackt?
– Hab’ ich, sagte Greta Lidelius, etwas anderes wäre nicht denkbar gewesen, verstehst du? Aber ich habe mich sehr gefreut, als im Winter 1956 die ungarischen Flüchtlinge nach Granåker kamen. Da bekam ich endlich etwas Ernsthaftes zu tun. Und ich habe Istvan kennengelernt, ja, du erinnerst dich ja auch an ihn, du erinnerst dich, was für ein entzückender Junge er war und wie gut er Französisch sprach. Irgendwie dachte ich an Johan, ich hatte viel darübernachgedacht, wie er geworden wäre, wenn er hätte aufwachsen dürfen, und als ich Istvan kennenlernte, dachte ich, daß Johan gewesen wäre wie er, lebendig und gescheit und charmant. Eva ist so blond, aber Johan war dunkler und meiner Familie ähnlicher. Deshalb dachte ich, daß er sogar hätte aussehen können wie Istvan.
Greta hatte jetzt Tränen in den Augen, und ein Tropfen suchte sich seinen Weg entlang den Falten an ihrer rechten Wange. Sophies Herz tat weh, aber sie hatte nicht vor aufzugeben. Sie konnte schonungslos sein, wenn es nötig war, davon hatte sie Nutzen als Regisseurin.
– Und Birgitta, kannte sie Istvan? fragte sie.
– Das tat sie wohl, sagte die Bischöfin, einerseits, weil sie fast wie ein Kind des Hauses ständig hier im Pfarrhof herumlief, aber auch, weil Börje Janols, Birgittas Bruder, in der Grube arbeitete und Istvan kannte. Er und Istvan hatten jeder ein Motorrad, und sie fuhren im Sommer immer herum zu den Tanzplätzen.
Sie seufzte und sah zu dem Bild über dem offenen Kamin, dem Porträt, das Eva Lidelius vor langer Zeit von ihrer Mutter gemalt hatte.
– Ich war so enttäuscht von Istvan, sagte sie, er hat Geld genommen, verstehst du, von der Gewerkschaft, glaube ich, und ist von hier verschwunden. Das war gemein und erbärmlich. Er war hier an dem Abend, bevor er verschwand, es war eine Walpurgisnacht, und wir hatten ein Walpurgisfeuer auf der Wiese am Gemeindehaus. Istvan sang im Chor, er hatte eine sehr schöne Singstimme, und er half mir mit seinem Motorrad, Sachen zum Gemeindehaus zu bringen. Aron war verreist, er war in Uppsala und sprach über seine Forschung. Ich blieb dort ziemlich lange, so lange, daß es dunkel war, als ich nach Hause kam, und ich bin sofortschlafen gegangen. Aber als ich am Morgen in die Bibliothek runterkam, sah ich, daß das Bild weg war.
Ihre Stimme zitterte jetzt.
– Hier hingen ursprünglich zwei Porträts, eines von mir und eines von Aron, auf dem er mit Bischofskreuz und Krummstab unter einem Apfelbaum steht. Dieses Bild fehlte, und ich war so bestürzt. Dann hörte ich, daß Istvan verschwunden war und das Geld mit ihm. Da begriff ich, daß er das Bild genommen hatte. Es war leicht für ihn, hier
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