Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
der geschlossenen Wandschranktür rüttelte, daß die Wand zitterte.
Die Leiter hinaufzuklettern dauerte nur ein paar Sekunden, aber Martine kam es vor, als sei eine halbe Stunde vergangen, bis sie durch das Loch in der Decke stieg und wegrollte, so daß Berger nachkommen, die Leiter hochziehen und die Luke schließen konnte.
Sie befanden sich in einem kleinen Raum mit einer Bodenfläche von ein paar Quadratmetern. Er hatte eine abgeschrägte Decke und ein halbkreisförmiges Fenster, zum größten Teil schwarz gestrichen, das einen Streifen Tageslicht hereinließ. Martine merkte an den Vibrationen im Boden, daß sich jetzt jemand im Wandschrank unter ihnen bewegte.
Berger legte einen Finger an die Lippen, um sie aufzufordern, still zu sein. Eine ganz unnötige Aufforderung. Martine wagte kaum zu atmen. Nach einer Weile hörten die Schritte auf.
– So, sagte Berger leise, jetzt dürften wir für einen Moment sicher sein. Die Schallisolierung ist ganz gut hier, aber wenn er anfängt, an die Wände hier oben zu klopfen, müssen Sie still sein wie eine Maus.
– Was ist das hier für ein Raum? fragte Martine. Sie war nicht ganz sicher, ob das die richtige Frage an den Mann war, für den sie vor fünf Stunden einen Haftbefehl ausgestellt hatte, aber sie konnte sich nicht zurückhalten.
– Ich würde glauben, daß er während des Krieges gebaut wurde, sagte Berger, um Widerstandskämpfer oder verfolgte Juden oder sonst jemand zu verstecken. Der Wandschrank in dem Raum in diesem Stockwerk ist kürzer als der, durch den wir gekommen sind, jemand hat eine blinde Wand mit diesem Raum dahinter aufgebaut und die Luke im Boden geöffnet. Ich habe das entdeckt, als ich merkte, daß die Fenster und die Dimensionen nicht stimmen.
Er saß, die Knie hochgezogen, an die Bretterwand gelehnt. Seine vorübergehende Panik unten im Wandschrank schien vorbei zu sein, seit er die Luke zu dem geheimen Raum zugezogen hatte, und er sah entspannt aus, als beherrschte er die Situation.
Martine beobachtete ihn und versuchte, in diesem Mann die Spuren des Jungen zu sehen, von dem sie andere hatte erzählen hören – Pisti, der mit Nunzia Paolinis Familie in der Baracke in Foch-les-Eaux gewohnt und mit dem kleinen Mädchen Lieder gesungen hatte, Istvan, der in Granåker Sophie und Greta bezirzt, aber auch Geld von Menschen unterschlagen hatte, die ihm vertraut hatten. Der jungenhafte Charme des Istvan im Teenageralter hatte sich bei dem erwachsenen Mann zu Charisma, sein Mangel an Skrupeln zu Rücksichtslosigkeit erhärtet.
Hunger muß ihn getrieben haben, dachte sie und sah das alte Gefangenenlager mit den rostigen Baracken vor sich, ein maßloser Hunger zu bekommen, was er in seiner Jugend verpaßt hatte, ein Hunger, der um jeden Preis gestillt werden mußte. Aber hatte er auch ein Gewissen? Sie dachte an den Artikel mit den Nonnen, die erzählt hatten, wie er im stillen Geld verschenkt hatte, um Flüchtlingen zu helfen.
– Ja, Ihnen gefallen ja Verstecke und Fluchtwege, stimmt’s – Istvan? sagte sie.
Er verzog den Mund.
– Kann sein, sagte er, aber aus diesem Versteck hier gibt es im Moment keinen Fluchtweg. Wir könnten einen brauchen, denn er wird uns beide töten, wenn er die Chance hat, glauben Sie mir. Ich weiß nicht, wie er rausbekommen hat, daß ich hier bin, aber ich sah ihn heute morgen um das Haus schleichen, seine verfluchte Büchse gezückt. Vermutlich wird er uns beide erschießen und mich in den Fluß werfen oder so was, damit man glaubt, ich hätte Sie umgebracht. Auf diese Weise schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie wissen, wer er ist, stimmt’s? Sonst wären Sie nicht mit mir die Leiter raufgestiegen.
Martine zog das Papier aus der Jackentasche und zeigte auf den Namen ganz unten.
Berger nickte.
– Ja, sagte er, und er hat zwei Menschen getötet, um zu verhindern, daß man ihm auf die Schliche kommt. Aber das habe ich erst gestern begriffen. Mit keinem Gedanken habe ich daran gedacht, daß er den französischen Journalisten ermordet haben könnte. Aber als das mit Birgitta Janols passierte, fing ich an zu verstehen, daß es so sein muß, auch wenn ich nicht begreife, warum. Das ist ja vor so langer Zeit passiert, daß alles verjährt ist, und er ist kein Politiker, der Wählerunterstützung braucht.
– Aber er hat schon einmal gemordet, sagte Martine, und er muß Fabien Lenormand ermordet haben, um zu verhindern, daß der erste Mord aufgedeckt wird. Auch wenn er verjährt ist, ist es riskant,
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