Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
als Mörder angeprangert zu werden.
So mußte es sein, dachte sie, es paßte noch nicht alles zusammen, aber sie war sicher, daß der Namenszug auf dem Papier, das sie in der Hand hielt, Giovanna Paolinis Mörder gehörte.
Stéphane Berger sah sie an, als sei er nicht sicher, ob sie es ernst meinte.
– Und wen, meinen Sie, soll er damals ermordet haben? sagte er.
– Die Mutter der Schwestern Paolini, sagte Martine, sie wurde, ein paar Tage bevor sie über Ihre Protestsitzung hätte aussagen sollen, auf dem Fahrrad totgefahren. Und ihr kleiner Sohn starb auch.
Berger sah völlig erschüttert aus, damit hatte sie nicht gerechnet. Er hatte die Familie Paolini natürlich gekannt, er war ja ihr Nachbar in der Baracke gewesen.
– Giovanna, sagte er schwer, und der kleine Tonio? Was ist mit ihnen passiert?
In seinem Gesicht schaute ein jüngerer und verletzlicherer Mensch unter einer Ansammlung von Masken hervor. Weder Inspektor Bruno noch der Geschäftsmann Berger hatte die passende Miene, um die Nachricht vom Mord an einer Frau, die er gern gehabt hatte, entgegenzunehmen, und es war offensichtlich, daß Giovanna Paolini dem jungen Istvan etwas bedeutet hatte. Aber trotzdem hatte er sich nie die Mühe gemacht herauszufinden, wie es der Witwe und den vaterlosen Kindern, die er in der Baracke hinter sich zurückgelassen hatte, ergangen war. Aufbruch ist sein ständiges Muster, dachte Martine, er dreht sich um, geht seines Weges und sieht nie zurück.
Sie hätte ihn gern gezwungen zurückzusehen, den Geruch von Blut zu riechen und das Weinen aus der Vergangenheit zu hören, der zu begegnen er so sorgfältig vermieden hatte.
– Das war 1957, sagte Martine, Giovanna Paolini radelte auf einer Dorfstraße mit dem Jungen auf dem Gepäckträger, um ihre Töchter zu besuchen. Sie kamen ins Kinderheim,als ihr Papa gestorben war, das wußten Sie vielleicht auch nicht? Giovanna war so deprimiert, daß sie eine Weile in einer Nervenheilanstalt lag, und danach blieben die Mädchen im Heim. Sie war an einem Freitagabend auf dem Weg zu ihnen, als sie angefahren wurde. Giovanna starb sofort, aber der kleine Tonio lebte noch, als man ihn fand, er hatte stundenlang im Kindersitz hinter seiner toten Mama gesessen. Die Polizei hatte schon damals den Verdacht, daß es Mord war, fand aber den Täter nie.
Sie schielte zu Berger. Er hielt sich die Hand vor den Mund, wie sie es selbst tat, wenn sie verbergen wollte, was sie dachte. Schrecken, von denen man nichts gewußt hat, können einen noch Jahrzehnte danach wie ein Schlag in den Magen treffen, das wußte sie selbst.
– Und Sie glauben, daß er Giovanna und Tonio totgefahren hat? sagte Berger, ohne die Hand vom Mund zu nehmen und mit einer Stimme, die seltsam erstickt klang.
Martine wußte, daß sie keine Beweise dafür hatte, aber alles sprach dafür. Der Mann, der das Papier, das sie in der Hand hielt, unterschrieben hatte, mußte in Panik gewesen sein angesichts des Gedankens, als Verantwortlicher für die Grubenkatastrophe zu einer Gefängnisstrafe verurteilt zu werden. Und er konnte gehört haben, daß Giovanna Paolini aussagen würde. Es war in diesen Wochen im Justizpalast viel geredet worden, hatte Justin Willemart gesagt. Seine Anwälte konnten etwas gehört und es ihrem Klienten erzählt haben.
– Ja, sagte sie, eine andere Erklärung gibt es nicht. Dann muß er Fabien Lenormand ermordet haben, damit der erste Mord nicht aufgedeckt würde, und dann ermordete er Birgitta Matsson, um die anderen Morde zu vertuschen.
– Ja, sagte Berger nachdenklich, wenn man anfängt,Leute umzubringen, muß man weitermachen, und schließlich verliert man die Kontrolle. Deshalb habe ich mich mit so etwas nie beschäftigt, egal, was die Leute von mir glauben. Aber erzählen Sie, wie kommen Sie darauf, daß er es war? Vertreiben wir uns irgendwie die Zeit, während wir darauf warten, erschossen oder gerettet zu werden.
Martine versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Erst jetzt am Vormittag hatte sie zu ahnen begonnen, daß ein anderer als Stéphane Berger der Mörder sein konnte, den sie suchte, aber die Samen waren früher gesät worden. Nunzia Paolini hatte seinen Namen genannt, Fabien Lenormand hatte versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, und auch Birgitta Matsson mußte das getan haben.
– Sie können doch statt dessen Ihre Lebensgeschichte erzählen, sagte sie, es hat gedauert, bis ich begriffen habe, daß Sie Istvan Juhász waren, weil Sie Franzose und in Paris geboren sind. Und
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