Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
warten müssen, daß sie alle drei zusammen an Land gegangen waren, um zu Abend zu essen. In Ivo-Ramet war ihre Fahrt durch Arbeiten an der Schleusenmaschinerie weiter verzögert worden. Sie hatten am Kai von Forvil erst gegen drei Uhr nachmittags angelegt, aber noch ein paar weitere Stunden warten müssen, um ihre Ladung löschen zu dürfen, weil andere Prahme vor ihnen lagen. Da hatten sie ein Taxi ins Zentrum genommen, wo sie sich getrennt hatten. Frans van Dijk war losgegangen, um ein Bier zu trinken und ein Sandwich zu essen, Kees Molenaar hatte nach einem Spielzeuggeschäft gesucht, um sich nach Geburtstagsgeschenken für seine fünfjährige Tochter umzusehen, und Johannes Peeters behauptete, er sei einfach nur herumgebummelt. Sie waren jeder für sich zum Prahm zurückgekommen, ungefähr eine Stunde bevor sie mit dem Löschen beginnen konnten. Während sie darauf warteten, hatten sie in der Kajüte Karten gespielt.
Jérôme Vandermeel hatte jetzt nicht mehr zu sagen alsbei seinem ersten Schnellbericht. Er hatte den toten Körper aus dem Baggerlöffel mit Erz fallen sehen, und das war es dann. Mehr wußte er nicht. Sein Arbeitskollege Guido Leone wußte noch weniger. Er hatte gesehen, wie Jérôme das Stopzeichen gab, war angelaufen gekommen, um zu sehen, was los war, und hatte gehört, wie Jérôme etwas davon faselte, daß eine Leiche im Baggerlöffel liege, was sich unglaublicherweise als wahr erwies. Sie hatten die ganze Schicht am Kai gearbeitet, seit sie um zwei Uhr angefangen hatten. Die Dafne 3 war der zweite Prahm, den sie löschten.
– Tut mir leid, das mit dem Niederländischen, sagte Julie, als sie zum Kai zurückgingen.
– Nicht deine Schuld, sagte Martine, es gehört nicht zu deinem Job, Niederländisch zu können, und ich bin wohl eigentlich auch nicht qualifiziert, Verhöre in einer anderen Sprache als Französisch durchzuführen. Wir brauchen einen Dolmetscher, wenn wir sie nächstes Mal befragen.
Es hatte aufgehört zu regnen, und die Pfützen auf dem Kai spiegelten das orangefarbene und weiße Licht der vielen Scheinwerfer. Alice Verhoeven stand jetzt am Eisenbahnwaggon und dirigierte die Arbeit, gekleidet in einen hellen Regenmantel und weiße Gummistiefel, die aussahen, als kämen sie aus einem Operationssaal. Mit dem weißen Schutzhelm sah sie aus wie ein Champignon.
– Hallo, Mädels, sagte sie zu Martine und Julie, ihr kommt gerade recht. Wir haben jetzt den Körper freigelegt, und ich muß wohl rauf in den Waggon und ihn an Ort und Stelle untersuchen, bevor wir ihn rausholen.
Jemand hatte an die Seite des Eisenbahnwaggons eine Leiter gestellt. Alice kletterte die Leiter hinauf, und zwei der drei Polizisten, die dort schon waren, hoben sie ganz einfach hinein. Sie untersuchte rasch den Toten und klettertedann wieder hinunter. Martine, Julie und Christian eilten ihr eifrig entgegen.
– Nicht viel, was ich sagen kann, leider, sagte sie. Er hat Quetschungen am Hinterkopf, aber wie er gestorben ist, weiß ich erst nach der Obduktion. Der Körper ist völlig starr mit gut entwickelten Leichenflecken, was darauf hindeutet, daß er heute früh oder gestern nacht gestorben ist, mehr kann ich darüber im Moment nicht sagen. Der linke Arm ist in einer hochgereckten Position erstarrt, und das deutet darauf hin, daß der Körper in einem Raum gelegen hat, wo der Arm von der Unterlage in diese Haltung gebracht worden ist. Vermutlich ist der Körper nach dem Tod nicht bewegt worden, das würde ich annehmen, nicht bevor er im Baggerlöffel gelandet ist, meine ich. Aber morgen wissen wir mehr. Wollt ihr noch einen Blick auf ihn werfen, bevor wir ihn transportieren?
Zum zweiten Mal stieg Martine in den Eisenbahnwaggon hinauf. Der Körper, der freigelegt worden war, gehörte einem jungen Mann mit lockigen braunen Haaren, gekleidet in schwarze Jeans und Jeanshemd. Das Scheinwerferlicht war so stark, daß sie deutlich Details in dem blauweißen toten Gesicht sah – ein Muttermal an der rechten Wange, ein Flaumstreifen auf der Oberlippe. Reste des zerkleinerten Erzes waren in den Wimpern und an den Nasenlöchern hängengeblieben. War der Junge schon tot gewesen, als er in den Prahm geworfen worden war, oder war er unter dem Erz erstickt, hatte er nach Luft geschnappt und nur den schwarzen Sand in die Atemwege bekommen? Martine atmete tief ein und füllte ihre Lungen mit regennasser, gesegnet frischer Luft.
– Okay, sagte der Polizeifotograf, der im Waggon stand, jetzt könnt ihr ihn
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