Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Stein des Platzes, versammelt.
Martine und Julie stiegen aus dem Polizeiwagen und gingen auf die kleine Volksversammlung zu. Die Tote war eine Frau in schwarzer langer Hose und lila Wildlederjacke. Sie sah sehr klein aus, wie sie auf dem riesigen leeren Platz dalag, ein Loch in der Stirn und ein Loch in der Kehle und die roten Haare wie ein blutbespritzter Fächer auf dem Pflaster. Ihr Mund war halb offen, als habe sie vor Erstaunen aufgeschrien, als die erste Kugel sie getroffen hatte.
Martine sah bestürzt, daß sie die tote Frau kannte. Es war die Schwedin, die sie in Brüssel nach dem Weg gefragt hatte, die Frau, bei der sie plötzlich ein solches Zusammengehörigkeitsgefühl empfunden hatte. Was machte sie in Villette?
Zwei Krankenwagen parkten an der Trottoirkante, warteten aber noch auf ihren Einsatz.
Ein großer Mann im grauen Tweedsakko kam zu Martine und stellte sich als Jean-Paul Debacker, Kommissar bei der kommunalen Polizei, vor.
– Wir haben eine Tote hier, wie Sie sehen, sagte er, aber es scheint keine Verletzten zu geben.
– Und die Schießerei hat aufgehört? fragte Martine.
– Ja, sagte Debacker, sie scheint sehr kurz gewesen zu sein. Die Schüsse sind anscheinend von dort gekommen – er machte mit dem Kopf eine Geste zu einer Seite des Platzes –, und wir sind dabei, dort die Häuser zu durchsuchen. Wir haben die Viertel um den Platz abgesperrt und kontrollieren alle, die raus- und reingehen. Aber der Schütze kann geflohen sein, es hat ja ein paar Minuten gedauert, bis wir hier waren.
– Haben Sie schon mit Zeugen reden können? fragte Martine.
– Ja, ein paar, sagte Debacker, wir haben Namen und Adressen aufgenommen und die meisten gehen lassen. Aber die zuverlässigste Zeugin scheint die Frau zu sein, die das Blumengeschäft da am Bahnhof hat, sie würde ich als erste drannehmen, an Ihrer Stelle, sie hat offenbar mit der Frau, die erschossen wurde, gesprochen.
Ein Kriminaltechniker war dabei, die Schultertasche, die neben der toten Frau lag, zu durchsuchen. Er stieß einen Ruf aus und hielt in seinen behandschuhten Händen ein dunkelblaues Heft im Paßformat hoch.
– Sehen Sie, ein Paß, sagte er, jetzt erfahren wir wenigstens, wer sie ist.
– Darf ich mal sehen, sagte Martine.
Er stand auf und zeigte ihr das Heft, dunkelblau mit dreigoldenen Kronen auf dem Deckel. Ein schwedischer Paß, natürlich. Er öffnete das Heft, und Martine sah ein Foto der toten Frau, mit glänzenden Augen und einem Lächeln, das zwei schiefe Schneidezähne zeigt.
– Birgitta Maria Matsson, las sie, geboren am 3. August 1949 in Granåker in Schweden.
Auf dem leeren Platz war ihre Stimme deutlicher zu hören, als sie erwartet hatte, so deutlich, daß sie die Handvoll Journalisten erreichte, die ein paar Meter von der Gruppe um die Tote entfernt standen und versuchten zu begreifen, was passiert war.
– Haben Sie gesagt, sie ist aus Schweden? fragte einer von ihnen. Martine glaubte sich zu erinnern, daß er Radiojounalist war, und er kam wie erwartet mit gezücktem Mikrofon auf sie zu.
– Madame Poirot, sagte er, es gibt Informationen, daß die Frau, die am Samstag bei der Schießerei auf der Place de la Gare getötet wurde, Schwedin war. Stimmt das?
– Dazu kann ich mich nicht äußern, sagte Martine, die tote Frau ist nicht identifiziert. Aber es stimmt, daß sie einen schwedischen Paß in der Handtasche hatte.
Sie nahm Julie beim Arm und ging auf den Bahnhof und das Blumengeschäft zu.
– Granåker, sagte Julie, als sie außer Hörweite der Journalisten waren, ist das nicht da, wo …
– Doch, sagte Martine, da ist mein Mann gerade. Und nur ein paar Kilometer von dort entfernt liegt die Grube, die Erz an Forvil lieferte und wo dieser geheimnisvolle Istvan Juhász arbeitete.
Die Frau im Blumengeschäft hatte eine Strickjacke über ihren ordentlichen grünen Nylonkittel gezogen, schien abertrotzdem zu frieren. Sie hatte schulterlange dunkle Haare, eine hübsche Stupsnase mit Sommersprossen und Lachfalten um die braunen Augen, die darauf hindeuteten, daß sie leicht lächelte.
Aber in diesem Moment lächelte sie nicht.
Martine hatte das vage Gefühl, daß sie sie wiedererkannte, und begriff plötzlich, wer sie war. Sie war Christians Frau nie vorgestellt worden, aber sie hatte beide ein paarmal zusammen gesehen.
– Sie sind Madame de Jonge, stimmt’s, sagte sie.
Die Blumenhändlerin nickte.
– Claudine, sagte sie und streckte Martine und Julie die Hand entgegen, ja, ich meine
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