Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Scharfschütze, er hat mit den ersten beiden Schüssen mitten ins Schwarze getroffen. Der dritte schlug zehn Meter vor mir auf dem Boden auf. Ich glaube nicht, daß er noch andere Menschen töten wollte, ich glaube, er wollte die Leute verscheuchen, damit niemand hingeht und ihr hilft. Ich glaube, er hatte getan, was er tun wollte.
Eine Stunde später waren Martine und Julie zurück im Justizpalast. Birgitta Maria Matssons toter Körper war in Erwartung der Obduktion in die Leichenhalle und ihr Eigentum zur Kriminalabteilung der kommunalen Polizei gebracht worden. Die Polizei versuchte, Kontakt mit der schwedischen Botschaft in Brüssel aufzunehmen, um Hilfe bei der Suche nach den Angehörigen der ermordeten Frau zu erhalten.
Die Schießerei auf der Place de la Gare war die Spitzenmeldung in den Radionachrichten, und sie enthielt auch die Information über den schwedischen Paß der toten Frau.
Julie war losgegangen, um Sandwiches für den Lunch zu kaufen, als Martines Telefon klingelte.
– Madame Poirot? sagte eine energische Stimme im Hörer. Hier ist Nali Paolini im Rathaus. Ich rufe an wegen der Schießerei auf der Place de la Gare. Sie leiten die Voruntersuchung, oder?
– Ja, sagte Martine, das stimmt.
Sie zog die Worte in die Länge, während sie versuchte, darauf zu kommen, wer »Nali Paolini« war. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, daß es Annalisa Paolini war, ehrgeizigeVizebürgermeisterin und heiße Kandidatin für die Nachfolge des herzkranken Bürgermeisters von Villette, Jean-Marc Poupart.
– Ich habe im Radio gehört, daß die Person, die erschossen worden ist, eine Frau war und daß sie möglicherweise Schwedin war, sagte Annalisa Paolini, und jetzt ist es so, daß ich eine schwedische Bürgermeisterin, eine Madame Matsson, um zwölf im Rathaus treffen sollte. Aber sie ist nicht aufgetaucht. War sie es, die erschossen wurde?
Martine hatte in den letzten Tagen zu wenig geschlafen und zu wenig gegessen, und Annalisa Paolinis Worte empfand sie wie einen Faustschlag in ihren leeren Magen. Ein Mord an einer schwedischen Politikerin in Villette!
Sie seufzte.
– Wissen Sie, wie sie mit Vornamen hieß und wo sie Bürgermeisterin war?
Es klang, als ob Annalisa Paolini zwischen ihren Papieren suchte.
– Ja, hier habe ich es, sagte sie, Madame Brigitte, nein, Birgitta, Matsson, Bürgermeisterin in einer Stadt namens Hammarås.
Martine seufzte wieder.
– Dann ist es sehr wohl möglich, daß sie es ist, die erschossen wurde, fürchte ich. Ich glaube, wir müssen reden, Madame Paolini, wo sind Sie jetzt? Können Sie hierher in den Justizpalast kommen?
– Sicher, sagte Annalisa Paolini, ich bin im Rathaus, und mein Treffen ist ja ausgefallen. Ich kann in einer Viertelstunde bei Ihnen sein.
Das Telefon klingelte wieder, kaum daß sie aufgelegt hatte. Aber diesmal war es Thomas. Ihr ganzer Körper wurde warm, als sie seine Stimme hörte, und noch mehr, als er erzählte, daß er auf dem Heimweg war.
– Ich rufe von Stockholms Centralen an, sagte er eifrig, ich übernachte bei Bures und fliege morgen früh nach Brüssel, dann bin ich um die Mittagszeit bei dir.
Martine fing vor Erleichterung fast an zu weinen. Der Gedanke daran, in das leere Haus in Abbaye-Village zurückzukehren, war für sie jeden Abend erschreckender. Was für eine unangenehme Überraschung würde sie dieses Mal auf der Treppe finden?
– Und Greta? fragte sie.
– Sie ist ins Krankenhaus gekommen, sagte Thomas, nein, es ist nichts Ernstes, aber die Bezirkskrankenschwester meinte, daß sie leicht dehydriert war und daß man Gretas Medikation ändern müßte. Aber ich wäre sowieso nach Hause gekommen, Sophie wollte bleiben und nach Großmutter sehen, das hatten wir schon entschieden.
– Wunderbar, sagte Martine, grüß Einar und seine Frau von mir. Ach, übrigens, Thomas, ich wollte dich noch einmal um Hilfe bei der Untersuchung bitten, wir interessieren uns für einen der Grubenarbeiter auf dem Foto, das du hierhergefaxt hast. Glaubst du, daß du herausfinden kannst, ob er noch in Hanaberget oder in der Gegend da oben wohnt?
– Ich kann einen Versuch machen, sagte Thomas, es reicht vielleicht, ins Telefonbuch zu gucken. Für wen interessierst du dich?
– Er heißt Istvan Juhász, sagte Martine.
Es wurde still im Hörer.
– Aha, Istvan Juhász, sagte Thomas langsam nach einer gedankenvollen Pause, das ist ein Zufall, sage ich dir, von dem habe ich tatsächlich schon gehört. Er kam im Winter 1956 von Ungarn
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