Die Günstlinge der Unterwelt - 5
anderen?«
Millie tunkte den Lappen in das Seifenwasser. »Die Schwestern – Leoma, Dulcinia, Maren, Philippa, die anderen eben. Ihr kennt sie doch, nicht wahr?« Sie befeuchtete eine Fingerspitze und rubbelte quietschend einen Flecken unten an der dunklen Holzvertäfelung ab. »Es können noch ein paar mehr gewesen sein, ich erinnere mich nicht mehr. Das Alter, wißt Ihr. Sie kamen alle nach dem Begräbnis zu mir. Nicht zusammen, nein, das nicht«, sagte sie mit einem stillvergnügten Glucksen. »Ihr wißt schon, jede für sich, mit den Augen in die Schatten blinzelnd, während sie mir die gleiche Frage stellten wie Ihr.«
Verna hatte ihren Vorwand am Bücherschrank vergessen. »Und was hast du ihnen erzählt?«
Millie wrang den Lappen aus. »Die Wahrheit natürlich, so wie ich sie auch Euch erzählen werde, wenn Ihr Lust habt, sie Euch anzuhören.«
»Habe ich«, sagte Verna und ermahnte sich, jede Schärfe im Tonfall zu vermeiden. »Schließlich bin ich jetzt die Prälatin und denke, ich sollte ebenfalls davon erfahren. Warum ruhst du dich nicht ein wenig aus und erzählst mir die Geschichte.«
Mit einem gequälten Stöhnen rappelte Millie sich mühsam auf und sah Verna mit ihren durchdringenden Augen an. »Vielen Dank, Prälatin. Aber ich habe noch Arbeit zu erledigen, wißt Ihr. Ich möchte nicht, daß Ihr denkt, ich sei eine Trödlerin, die lieber schwatzt, als ihren Lappen zu schwingen.«
Verna tätschelte der alten Frau die Schulter. »Mach dir deshalb keine Sorgen, Millie. Erzähle mir von Prälatin Annalina.«
»Na ja, sie lag auf dem Sterbebett, als ich sie sah. Ich habe auch in Nathans Zimmern saubergemacht, wißt Ihr, und da hab’ ich sie gesehen, als ich in Nathans Zimmer ging. Die Prälatin hat niemandem außer mir erlaubt, zu diesem Mann hineinzugehen. Kann ich ihr auch nicht verdenken, auch wenn der Prophet zu mir immer freundlich war. Außer wenn er wegen irgendwas an die Decke ging und anfing zu schreien, wißt Ihr. Nicht wegen mir, versteht Ihr, sondern wegen seiner Situation und all dem anderen, weil er die ganzen Jahre in seinen Gemächern eingesperrt war. Das zehrt vermutlich an einem Mann.«
Verna räusperte sich. »Ich könnte mir denken, daß es dir schwerfiel, die Prälatin in diesem Zustand zu sehen.«
Millie legte eine Hand auf Vernas Arm. »Da sagt Ihr was. Es hat mir das Herz gebrochen, wirklich. Aber sie war freundlich wie immer, trotz ihrer Schmerzen.«
Verna biß sich auf die Lippe. »Du wolltest mir vom Ring erzählen und von dem Brief.«
»Ach, richtig.« Millie kniff die Augen zusammen, dann streckte sie die Hand aus und zupfte Verna ein Staubkorn von der Schulter ihres Kleides. »Ihr solltet mich das für Euch ausbürsten lassen. Es ist nicht gut, wenn die Leute denken…«
Verna ergriff die schwielige Hand der Frau. »Millie, das ist sehr wichtig für mich. Könntest du mir bitte erklären, wie du zu dem Ring gekommen bist?«
Millie lächelte reumütig. »Ann erklärte mir, daß sie im Sterben liege. Sie hat das einfach so gesagt, wirklich. ›Millie, ich sterbe.‹ Na ja, da hab’ ich geweint. Sie war lange, lange Zeit meine beste Freundin gewesen. Sie lächelte und nahm meine Hand, genau so wie jetzt Ihr, und erzählte mir, da sei noch ein letzter Gefallen, um den sie mich bitten wolle. Sie zog ihren Ring vom Finger und gab ihn mir. In meine andere Hand legte sie den Brief. Der war mit Wachs verschlossen und trug das Siegel des Rings.
Sie erklärte mir, wie ich den Ring während des Begräbnisses auf den Brief legen sollte, oben auf das Postament, das ich dort reintragen sollte. Und ich solle darauf achten, den Ring erst ganz zum Schluß mit dem Brief in Berührung zu bringen, sonst könnte mich die Magie, mit der sie ihn umgeben hatte, töten. Sie warnte mich mehrmals, darauf zu achten, daß sie sich nicht berührten, bis ich alles richtig gemacht hatte. Sie erklärte mir genau, was ich tun mußte, in welcher Reihenfolge. Und das hab’ ich gemacht. Ich habe sie nie wiedergesehen, nachdem sie mir den Ring gegeben hatte.«
Verna starrte durch die offenen Türen hinaus in den Garten, den aufzusuchen sie noch kein einziges Mal die Zeit gefunden hatte. »Wann genau war das?«
»Diese Frage hat mir keine der anderen gestellt«, murmelte Mühe vor sich hm. Sie strich mit einem dünnen Finger über ihre Unterlippe. »Mal sehen. Das ist schon eine Weile her. Ja, richtig. Das war lange vor der Wintersonnenwende. Richtig, es war gleich nach dem Angriff, an dem Tag,
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