Die guten Schwestern
Anruf überein, in dem sie mitgeteilt hatte, sie müsse ihre Vorlesung am folgenden Vormittag wegen Krankheit absagen. Am 12. März hatten die Kriegstrommeln gedröhnt, und die NATO hatte sich darauf eingestellt, ihren Luftkrieg zu beginnen. Am 12. März waren Tschechien, Ungarn und Polen Mitglieder der NATO geworden. Dieser Schritt wurde in Moskau und in Teilen der westlichen Welt als unnötige und provozierende Maßnahme betrachtet, die nur dazu führen würde, daß sich das krisengeschüttelte Rußland nach innen wenden und einen kriegerischen, nationalistischen Präsidenten wählen würde. Die Schwarzseher hatten laut ihre Stimme erhoben. Zu diesem Zeitpunkt war E. reaktiviert worden, das stand fest. Irgend jemandem brannte es offensichtlich unter den Nägeln, hatte Charlotte Bastrup vermutet.
Vuldom hatte sie anerkennend angesehen.
»Clever«, hatte sie gesagt. »Aber wie hilft uns das genau weiter?«
Toftlund sah Charlotte an, daß sie ihren Joker noch in der Hand hatte. Daß sie sich darauf freute, ihn auf den Tisch zu knallen und sie alle zu überraschen, ihn, Bjergager, die stumme Sekretärin und die Chefin Vuldom, die zwar fair war, aber keinen Hehl daraus machte, daß sie bei einem Mann und einer Frau mit gleichen Qualifikationen immer die Frau wählen würde.
Mit einem Lächeln auf ihren schmalen roten Lippen hatte Charlotte gesagt:
»Alle, die durch die Mautstation der Großen-Belt-Brücke fahren und mit ihrer Kreditkarte bezahlen, werden fotografiert, und die Bilder werden drei Monate im Computer gespeichert. Wir haben den genauen Zeitpunkt, an dem Irma bezahlt hat. Ich dachte mir, vielleicht könnten die da unten an der Brücke uns ihr Bild heraussuchen. Vielleicht können wir darauf den Beifahrer erkennen.«
»Echt clever. Worauf wartet ihr noch?«
»Die vom Großen Belt sagen, daß sie der Polizei natürlich gerne behilflich sein wollen, aber sie brauchen dafür einen richterlichen Beschluß. Wegen des Datenschutzes.«
»Den kriegen wir. Ich faxe ihn hin. Und jetzt ab mit euch! Und bringt uns ein Bild von der kleinen Irma und dem großen Wolf mit, der sich hinter dem Buchstaben E verbirgt. Und der glaubt, mit uns spielen zu können.«
Die mächtigen Pfeiler der Brücke tauchten auf und verschwanden wieder, als eine schwarze, tiefhängende Wolke einen weiteren Schneeschauer über die Fahrbahn jagte, der sich in peitschenden, starken Regen verwandelte und sich dann genauso schnell wieder verabschiedete, wie er gekommen war.
»Dänischer Frühling«, sagte Charlotte. Sie hatte eine hohe, aber sehr angenehme Stimme.
»Das kann man wohl sagen.«
»Wenn wir die Geschichte hier überstanden haben, geht’s nach Süden. Ich habe eine Million Überstunden auf meinem Konto.«
»Allein?«
Sie wandte ihm das Gesicht zu, und er fixierte einen Moment lang diese erstaunlich klaren Augen, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte. Es herrschte nur wenig Verkehr. Überwiegend schwere LKW, die er mühelos überholen konnte. Dabei ergoß sich jedesmal schwarzes Wasser auf die Windschutzscheibe.
»Das kommt drauf an, ob jemand mit will«, sagte sie.
»Vielleicht ein Liebster?«
»Im Augenblick nicht«, sagte sie. »Jedenfalls keiner, mit dem ich wegfahren möchte.«
»Na, allzu bald werden wir die Geschichte eh noch nicht beendet haben.«
»Nein. Und du bist ja besetzt«, sagte sie mit der selbstsicheren Offenheit, die ihn so anzog und gleichzeitig fuchste.
»Was meinst du denn damit?«
»Du trägst einen Ring.«
»Ja, stimmt«, sagte er und wurde von dem Schild gerettet, das die Mautstation in Halsskov ankündigte. Er blinkte, fuhr auf den Platz mit dem Kreisverkehr, passierte eine Tankstelle und steuerte das Verwaltungsgebäude der Großen-Belt-Brücke an. Sie fuhren die alten Stellspuren entlang, wo aus den Rissen im grauen Zement gelbes Gras emporwuchs, obwohl es erst ein Jahr her war, daß die Autos hier in langen Reihen darauf gewartet hatten, an Bord der Fähren rollen zu können. Es sah alles so verfallen und verlassen aus, als wüßte man nicht recht, was man damit anfangen sollte. Als wenn es jahrelang nutzlos vor sich hingemodert hätte. Verwitterte Rohre führten zum Wasser hinunter, und das Kioskgebäude war leer und dunkel. Die Öffnungszeiten waren schon seit langem nicht mehr gültig. Der Wind peitschte das Wasser in dem verödeten Fährbett auf. Die Möwen standen fast still in der Luft, als warteten sie auf eine Abfahrt und wüßten nicht, daß die Zeit der Fähren
Weitere Kostenlose Bücher