Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Haarteppichknüpfer - Roman

Die Haarteppichknüpfer - Roman

Titel: Die Haarteppichknüpfer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
Vom Netzwerk:
nach Hause kamen, dann ging er davon, spürte die Steine unter seinen Füßen knirschen und hörte das Geräusch von den Häuserwänden widerhallen, seine Schritte, schneller und schneller. Die erste Häuserecke war wie ein Lebensretter. Nur verschwinden, außer Sicht kommen!
    Doch da fiel ihm plötzlich ein, woher er den Mann kannte. Er blieb abrupt stehen, einen unartikulierten Laut der Überraschung ausstoßend. Konnte das möglich sein? Dieser Mann, den er gekannt hatte – ein Prediger? Obwohl er tief innen wusste, dass er Recht hatte, konnte er nicht anders, als umzudrehen und zurückzugehen, um sich zu vergewissern. Hinter der Ecke, die ihm gerade noch als Zuflucht gedient hatte, blieb er stehen und spähte auf den Marktplatz.
    Es war kein Zweifel möglich. Dieser Mann, der da im Kreis einer andächtig lauschenden Menge saß, gekleidet in das härene Gewand des heiligen Wanderers, war niemand anders als der, mit dem zusammen er in seinen jungen Jahren die Schule in Kerkeema geführt hatte. Er erkannte ihn an der Art, sich zu bewegen, und nun erkannte er auch die Gesichtszüge wieder. Brakart. Das war sein Name gewesen.
    Parnag atmete aus, erleichtert, und erst jetzt spürte er, dass ihm Todesangst die Brust zugeschnürt hatte wie mit stählernen Bändern. Er hatte Angst gehabt, der andere hätte ihn als Zweifler, als Gottesleugner erkannt. Er war davongerannt, weil er Angst gehabt hatte, als Ketzer gesteinigt zu werden. Aber er hatte nichts zu befürchten. Der andere hatte ihn erkannt und auch, dass Parnag ihn erkannt hatte – und damit wusste er, dass er auf jemanden gestoßen war, der sein Geheimnis kannte. Sein schmutziges Geheimnis.
    Es lag fast vierzig Jahre zurück: Kerkeema, die Stadt am Rand des erloschenen Vulkankraters. Der weite Blick über die Ebene und die bizarren Schatten, die jeder Sonnenuntergang warf. Sie hatten die Schule der Stadt gemeinsam geführt, zwei junge Lehrer, und während Parnag als freundlich und umgänglich galt, erwarb Brakart sich bald den Ruf unnachsichtiger Strenge. Kaum ein Abend verging, an dem er nicht jemanden zum Einzelunterricht dabehielt, und meistens waren es Schülerinnen, denen er nachsagte, sie seien unaufmerksamer im Unterricht als die Jungen.
    Die Jahre vergingen, bis eines Tages ein Krankheitsfall, viele Tränen und ein Geständnis ans Licht brachten, dass Brakart sich seiner Schülerinnen in unzüchtiger Weise bedient hatte und dass das der wahre Grund seiner so strengen Disziplin gewesen war. Er flüchtete Hals über Kopf mitten in der Nacht, ehe ihm die erzürnten Stadtleute etwas antun konnten, und Parnag hatte nachher so viele unangenehme Verhöre durchzustehen, dass er Kerkeema schließlich auch verließ. So war er nach Yahannochia gelangt.
    Und nun waren sie wieder zusammengetroffen. Parnag fühlte sich plötzlich elend. Ein Teil in ihm jubelte übermütig, dass er in Sicherheit war, dass er den anderen in der Hand hatte, aber ein anderer Teil in ihm fand es deprimierend: Sollte ich so billig davonkommen? Er hatte gezweifelt und einen jungen Menschen damit getötet. Er war dem Zweifel unrettbar verfallen, und den, der die Wahrheit hätte rächen können, hatte er vollkommen in der Hand: Es war ein billiger, würdeloser Sieg. Nein, kein Sieg – nur ein Davonkommen. Seine Haut war gerettet, aber seine Ehre verloren.
    An diesem Nachmittag blieb er zu Hause. Die geizigen Haarteppichknüpfer würden nicht traurig sein, wenn sie ihr Geld noch einen Tag länger behalten konnten. Er wanderte im Haus hin und her, putzte ziellos den einen oder anderen Gegenstand und hing seinen Gedanken nach. Grau. Alles war grau und trostlos.
    Lange blieb er vor dem ledernen Beutel stehen, der im Flur an einem Haken hing, ganz in den Anblick versunken. Der Beutel hatte einmal Abron gehört. Bei seinem letzten Besuch hatte der Junge ihn da hingehängt und vergessen, als er ging, und seitdem hing der Beutel da.
    Später überkam ihn plötzlich der Impuls zu singen. Mit brüchiger, ungeübter Stimme versuchte er ein Lied anzustimmen, das ihn als Kind sehr beeindruckt hatte und das mit den Worten begann: »Ich ergebe mich ganz dir, mein Kaiser …« Aber er konnte sich nicht an den Rest des Textes erinnern und gab es schließlich auf.
    Irgendwann klopfte es stürmisch an der Tür. Er ging hin, um aufzumachen. Es war Garubad, der Viehzüchter, ein untersetzter, grauhaariger Mann in verwitterter Lederkleidung. Damals, vor zwanzig Jahren, war auch Garubad Mitglied seines

Weitere Kostenlose Bücher