Die Haarteppichknüpfer - Roman
ordinär. Man konnte förmlich spüren, dass darin jeder schreiben durfte; eine Hure von einem Buch war das. Kremman schlug es mit einigem Widerwillen auf und suchte seine letzte Eintragung. Dann überflog er die darauf folgenden Seiten mit den Änderungen, den Geburten und Sterbefällen, den Heiraten, den Zu- und Abwanderungen und den Veränderungen der Berufsstände. Es war nicht so viel, wie er befürchtet hatte nach der langen Zeit. Er würde rasch fertig sein mit den Schätzungen, und dann würde noch etwas Zeit bleiben für ein paar Stichproben. Er wollte zu gern herausfinden, ob in dieser ruhigen Stadt wirklich alles mit rechten Dingen zuging.
Mit leichtem Naserümpfen las er die letzte Eintragung. Sie hatten vor kurzem ihren einzigen Lehrer gesteinigt, offenbar auf Geheiß eines Wanderpredigers; die nachträglich formulierte Anklage lautete auf Gotteszweifel. Kremman mochte es nicht, wenn sich irgendwelche dahergelaufenen Prediger als Richter aufspielten; und in einer Stadt ohne Lehrer sanken über kurz oder lang die Steuererträge, das zeigte die Erfahrung immer wieder.
Es war angenehm still in dem Kellergewölbe. Kremman hörte nur seinen eigenen Atem und den Schreibkiel, der kratzend über das Papier fuhr, während er seine Listen anlegte. Die erste Liste würde er nachher dem Stadtdiener geben; sie enthielt die Namen aller Leute, die zur Befragung ins Stadtoberenhaus zu laden waren, Leute, deren Besitzverhältnisse oder Familienstände sich seit dem letzten Mal geändert hatten. Auf der zweiten Liste notierte er die Namen derer, die er selber aufsuchen und schätzen würde. Ein paar der Namen stammten aus dem Änderungsbuch; die Lage der Dinge machte eine persönliche Einschätzung unumgänglich. Die übrigen Namen gab ihm seine Intuition ein, sein Gespür für unlautere Machenschaften und seine instinktive Einfühlung in das menschliche Bestreben, möglichst viel zu behalten und möglichst wenig herzugeben und sich um die anerkannten Pflichten herumzumogeln. Diesem Instinkt vertraute er vollkommen, und er war damit bisher immer gut gefahren. Er las das Verzeichnis der Stadtleute, las Beruf, Alter und Stand und die letzte Schätzung, und bei manchen Namen spürte er so etwas wie einen inneren Alarmruf in sich: Die schrieb er auf.
Er konnte sich gut vorstellen, was jetzt in der Stadt los war. Inzwischen hatte sich die Nachricht von seiner Ankunft bestimmt bis in die letzte Hütte herumgesprochen, und nun beratschlagten sie mit bangen Herzen, ob es sie dieses Mal wohl treffen würde. Und natürlich waren sie eifrig dabei, alles zu verstecken, was wertvoll war – den Schmuck, die neuen Kleider, das gute Werkzeug, das geräucherte Fleisch und die Tonkrüge mit dem Eingesalzenen. Während er hier saß und seine Listen schrieb, zogen sie ihre ältesten Kleider an, graue, abgeschabte Lumpen, schmierten sich Fett in die Haare und Schmutz ins Gesicht, rieben die Wände ihrer Häuser und Hütten mit Asche ab und trugen Viehmist in die Zimmer, damit sich das Geschmeiß darin sammelte.
Und er würde ihre Maskerade durchschauen. Sie glaubten, ihn mit ungepflegtem Haar und schmutzigem Gesicht täuschen zu können, aber er würde auf ihre Fingernägel schauen und darauf, ob sie Schwielen an den Händen hatten, und Bescheid wissen. Er würde Sachen finden, unter dem Stroh ihrer Schlafplätze, hinter Schränken, unter Balken und in Kellerräumen. Es gab nicht so viele Verstecke, und er kannte sie alle. An Tagen, an denen er guter Laune war, konnte er es als sportliche Herausforderung genießen. Allerdings waren solche Tage selten bei ihm.
Als die beiden Listen fertig waren, schloss Kremman das Hauptbuch und klingelte nach dem Stadtdiener.
»Bist du mit dem Ablauf einer Steuererhebung vertraut?«, fragte er ihn. »Du bist sehr jung, und ich kenne dich nicht, deshalb die Frage.«
»Ja. Das heißt, nein. Man hat es mir erklärt, aber ich habe es noch niemals selbst …«
»Dann tu, was ich dir sage. Hier ist eine Liste mit Namen von Stadtleuten, die ich morgen hier schätzen werde. Ich habe sie in vier Gruppen eingeteilt; für den frühen Vormittag, den späten Vormittag, den Nachmittag und den frühen Abend. Du musst dafür sorgen, dass sie jeweils rechtzeitig da sind. Hast du das verstanden?«
Der junge Mann nickte unsicher. Er ist wirklich ein Grünschnabel, dachte Kremman verächtlich. »Wirst du das schaffen?«
»Ja, gewiss!«, beeilte sich der Stadtdiener zu versichern.
»Wie wirst du vorgehen?«
Da hatte
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