Die Haarteppichknüpfer - Roman
bringen.
Im Licht einer Öllampe zog er eines seiner kostbarsten Besitztümer hervor, ein uraltes Handelsbuch, das einer seiner Vorväter vor mehreren hundert Jahren begonnen hatte. Die Blätter des Buches knisterten trocken, und die Zahlenkolonnen waren an vielen Stellen nur noch schwer zu entziffern. Trotzdem hatte ihm dieses Buch schon viele wertvolle Informationen über die verschiedenen Haarteppichrouten geliefert und über die Städte auf diesen Routen.
Erst vor einigen Jahren war ihm aufgefallen, dass ihm dieses Buch noch über etwas anderes Aufschluss geben konnte, nämlich über Veränderungen, die sich im Laufe langer Zeiträume ergeben hatten. Es waren schleichende, unmerkliche Veränderungen, die man nicht wahrnahm; erst wenn man Zahlen aus mehreren Jahrhunderten, aus beinahe zehn Generationen, verglich und hochrechnete, wurde eine Entwicklung erkennbar: Es gab immer weniger Haarteppiche. Die Zahl der Haarteppichknüpfer nahm langsam ab, ebenso die Zahl der Haarteppichhändler. Die Route, die eine Haarteppichkarawane bereisen musste, um die traditionell vorgeschriebene Anzahl von Teppichen zu sammeln, wurde im Schnitt immer länger,
und der Wettbewerb der Händler um die guten, ertragreichen Routen in den Polregionen wurde immer härter.
Tertujak konnte ausgezeichnet rechnen, wie alle Händler, und hatte außerdem die umfassende mathematische Begabung seiner Ahnen geerbt. Es bereitete ihm keinerlei Mühe, die Vergleichszahlen in aussagekräftige Kurven umzusetzen: Die Kurven führten abwärts. Ja, sie stürzten regelrecht ab; der Trend nach unten hatte sich in den letzten Jahren drastisch verstärkt. Es waren die Kurven eines sterbenden Organismus.
Der vernünftige Schluss wäre gewesen, aus dem Geschäft mit den Haarteppichen auszusteigen. Nur würde er das niemals tun können. Er war durch seinen Eid an die Gilde gebunden bis ans Ende seines Lebens. Haarteppiche zu erzeugen war die heilige Aufgabe, die der Kaiser der Welt gegeben hatte – aber aus irgendwelchen Gründen schien die Kraft hinter dieser Aufgabe erloschen zu sein.
Und in diesem Zusammenhang musste Tertujak wieder an den Gefangenen denken und an das, was über ihn erzählt wurde. Man hatte ihm allerhand hintertragen in Yahannochia. Von einer anderen Welt komme er, habe er behauptet. Und noch etwas anderes hatte er behauptet, etwas, das jedermann zutiefst schockierte und das doch unermüdlich weitergetragen wurde: dass der Kaiser, der Herr des Himmels, der Vater der Sterne, der Hüter ihrer aller Schicksal, der Mittelpunkt des Universums – dass der Kaiser nicht mehr regiere!
Tertujak sah seine deprimierenden Kurven an, und etwas in ihm dachte darüber nach, ob das die Erklärung sein konnte.
Er stemmte sich hoch und öffnete den Wagenschlag. Inzwischen war es Nacht. Man hörte das Gelächter der Soldaten, die den wenigen Frauen nachstellten, die zum Tross gehörten. Da diese Frauen ausnahmslos Marketenderinnen waren, war das keine Angelegenheit, um die der Händler sich zu kümmern hatte. Er winkte einem der beiden Wachsoldaten.
»Hole mir den Kommandanten Grom.«
»Ja, Herr.«
Grom trat kurze Zeit später ein. Den Wohnwagen des Händlers betreten zu dürfen, wenn er gerufen wurde, war das Privileg seiner Stellung. »Herr?«
»Grom, es gibt zwei Dinge, um die ich dich bitten möchte. Erstens: Sorge dafür, dass sich nicht alle Reitersoldaten sinnlos betrinken. Ich möchte wenigstens einen Teil der Männer kampfbereit wissen. Zweitens«, Tertujak zögerte einen Moment und fuhr dann entschlossen fort: »Ich möchte, dass der Gefangene unauffällig zu mir gebracht wird.«
Grom riss die Augen auf. »Der Gefangene? Hierher? ZuEuch in den Wagen?«
»Ja.«
»Aber warum das?«
Tertujak schnaubte ärgerlich. »Bin ich dir Rechenschaft schuldig, Reiterkommandant?«
Der andere zuckte zusammen. Sein Rang hing allein vom Wohlwollen des Händlers ab, und er war nicht darauf aus, ihn zu verlieren. »Vergebt mir, Herr. Es wird geschehen, wie Ihr es wünscht.«
»Warte noch eine Weile, bis die meisten schlafen. Ich will nicht, dass es Gerede gibt. Nimm zwei, drei verschwiegene Leute, um den Gefangenen zu eskortieren, und bringe eine Kette mit, um ihn hier drinnen anzubinden.«
»Ja, Herr.«
»Und denke daran: äußerste Verschwiegenheit!«
Die Zeit bis zum Eintreffen des Gefangenen verbrachte Tertujak in angespannter Ungeduld. Mehrmals war er kurz davor, einen der Wachsoldaten loszuschicken, um die Angelegenheit zu beschleunigen, und
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