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Die Habenichtse: Roman (German Edition)

Die Habenichtse: Roman (German Edition)

Titel: Die Habenichtse: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hacker
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was sie mir vorenthalten mußten, weil sie mich weggeschickt haben. Sie bilden sich ein, es wäre die Kindheit, dabei habe ich meine Kindheit ja bei ihnen verbracht. Ich war so lange nicht da, deswegen kleben an mir die Geschichten derer, die weggegangen, und derer, die dageblieben sind. Ihre Sehnsucht, ihr Ehrgeiz, ihre mißratenen Lieben und Ehebrüche und Lügen.
    Jakob warf einen Blick aus dem Fenster, als könnte er zu seiner Wohnung hochschauen, die er unverändert vorgefunden hatte.
    –Ich frage mich, ob es klug war, nach London zu gehen, sagte er. Es kommt mir vor, als würde mir dort etwas entgleiten, ich weiß nur nicht, was.
    –Deswegen wolltest du mich sehen? Andras fragte freundlich, beinahe liebevoll.
    –Heute nachmittag dachte ich, daß es eine Art Umrißlinie gibt, um das eigene Leben herum, und daß das genügt – aber ich weiß nicht, was es bedeutet. Die Dinge verändern sich.
    –Die Dinge?
    Jakob schwieg. Dann sagte Andras: –Warum soll man nicht an zwei Orten leben? Wozu diese angeblichen Entscheidungen? Vielleicht findet man sich irgendwann in seine eigenen Umrisse hinein und begreift, daß es ausreichend ist, mehr als ausreichend.

    Am nächsten Tag hatte Jakob einen Termin im Verwaltungsgericht. Hans holte ihn ab, sie gingen essen, beide vorsichtig, enttäuscht, und vergeblich suchte Jakob nach etwas, das er Hans sagen könnte. Komm zu Besuch, wollte er sagen und unterließ es. Hans brachte ihn nach Tegel. Zum Abschied umarmten sie sich lange, und als er Hans lächeln sah, tapfer und betrübt und liebevoll, streichelte er vorsichtig seinen Arm.
    Das Flugzeug näherte sich Heathrow, kreiste in einer Schleife über der Stadt, Regent’s Park war zu erkennen, die Great Portland Street, und Jakob versuchte vergeblich, vom Sicherheitsgurt gehalten und von einem strengen Blick der Stewardeß ermahnt, sich aufzurichten, um vielleicht die Devonshire Street zu entdecken.
    Die folgenden Tage kam Bentham nicht ins Büro, und keiner sagte Jakob, wo er war.

26
    Es war Magda, die ihn verließ, einstweilen, sagte sie, für eine gewisse Zeit vielleicht nur, um einen unerfreulicheren Abschied zu vermeiden, der sicher käme, wenn man zu lange ausharre und nicht mehr genau wisse, was man erwarte, was man erhoffe. An der Erwartung scheitern wir also, dachte Andras und wunderte sich, daß die kleine, erste Bitterkeit rasch verschwand. Häufiger noch als sonst lief er durch die Stadt, unaufmerksam und in Kreisen, passierte wieder und wieder die gleichen Straßen und Plätze, fand sich nur manchmal weit draußen, in Weißensee, in Marzahn, da, wo Richtung Nordosten die Plattenbauten ausfransten, in Felder übergingen. Zum Unglücklichsein kam es nicht wirklich, er lief nur, ohne sich für das Wohin sonderlich zu interessieren, geradeaus eben, und ihm war dabei friedlich zumute. Es gab in allem eine Pause, sogar in seiner Sehnsucht nach Isabelle, und sein Ärger über ihre letzte ausführliche Mail vor zwei Monaten, aufgeregt wegen des Kriegs und bemüht witzig, in der sie davon schrieb, sie wären aufgefordert, sich mit Kerzen und Batterien einzudecken, verklang, obwohl er ihre Reaktion idiotisch und peinlich fand, die Mischung aus Naivität und unglaubwürdiger Ironie, mit der sie ein Vorratslager unterm Bett schilderte. Denn letztlich, dachte Andras, blieb sie unbehelligt, sie hatte ein bemerkenswertes Talent selbst da unbehelligt zu bleiben, wo etwas sie tatsächlich traf, wie bei Alexas Auszug, bei Hannas Tod, bei ihrer Hochzeit, nicht eine Katze mit sieben Leben, sondern eher wie ein Welpe, dem nie etwas zustößt, weil er so niedlich ist und folglich unverletzlich. Nach Isabelle sehnte er sich nicht, nach Magda nicht, und doch füllten sie den Raum, in dem er lebte, die Spaziergänge und Nachtstunden, wenn er am offenen Fenster stand, in der Zone städtischer Dunkelheit, die das untere Ende der Choriner Straße von den Lichtern des Alexanderplatzes abtrennte. Er hatte wieder angefangen zu rauchen, mühsam zuerst, hustend, es schmeckte nicht, aber Herr Schmidt hatte ihm eines Abends, als sie sich im Treppenhaus begegneten, eine Zigarette angeboten, und Andras verliebte sich in den roten Lichtpunkt, in die glimmend vergehende Zeit. Am Fenster stehend, hinter sich den Geruch von Staub, die Wohnung verkam ein bißchen, da ihn niemand besuchte. Das rote Sofa, auf dem er mit Isabelle gesessen, das Bett, in dem er mit Magda geschlafen hatte. Ihre Körper, so unterschiedlich sie waren, verschwammen ineinander,

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