Die Händlerin von Babylon
seine Schale und sein Siegel in Händen haltend, in die Schlange ein. Es waren größtenteils Männer, Vertreter ihrer Sippe, und meist Alte, die sich freiwillig gemeldet hatten, um den Jungen den Tod zu ersparen. Die gut aussehenden jungen Priester segneten die sich Opfernden im Vorbeigehen.
Guli zählte fünfzig Freiwillige, die bereits in den schmalen Schacht und in die Kammer verschwunden waren, dazu noch sechzig, die vor ihm in der Schlange warteten. Auf der Fläche vor dem Tunneleingang hatten die Priester den Kessel aufgestellt. »Tunk ein, werter Mandant«, deklamierten sie im Gleichklang.
Die Schale am Rand haltend, tauchte Guli sie bis zum Rand ein, denn schließlich war er ein großer Mann. Ein letzter Blick auf den Tempel, auf die von Lampen erhellten Stufen, auf die in der Nacht leuchtende blaue Himmelskammer. Hoffentlich schaute wenigstens ein einziger Gott zu, dem etwas an ihnen lag. Wenigstens einer. Im Takt der Trommeln trat Guli in den Schacht.
Draußen war es inzwischen dunkel geworden, ohne dass Chloe eine Entscheidung gefällt hatte. Falls die Diebe zurückkehrten - sie konnte sich nicht vorstellen, warum sie das tun sollten, aber schließlich hatte sie überhaupt nicht mit ihnen gerechnet, darum konnte sie sich hier auf ihr Gefühl nicht verlassen -, dann würde sie entdeckt, falls sie im Brunnen wartete.
Tote Chloe.
Nachdem sie eben erst dem Gift entkommen war, nachdem sie das Jucken, die Krämpfe und die Übelkeit beim Weiterleben überstanden und schließlich über Gebeine und Leichen geklettert war, um hierher zu kommen, wollte sie ganz bestimmt nicht aus Dummheit sterben.
Vorausgesetzt, diese Entscheidung war dumm.
Andererseits würde sie auch auf keinen Fall in einem Raum mit lauter Skeletten und verwesenden Leichen über ihr bleiben. So masochistisch war sie ganz bestimmt nicht.
Der zum Brunnen führende Tunnel verlief nicht gerade. Kurz vor dem Ende krümmte er sich nach oben. Wahrscheinlich gab es dort eine Leiter oder ein Seil. So weit konnte sie sehen, also war sie gewarnt, wenn jemand in den Brunnen hinabkletterte oder sogar in den Tunnel kam.
Infolgedessen hatte sie sich in die Mündung zwischen Tunnel und Gruft gequetscht. Die Gruft war eine Armeslänge von ihr entfernt, sodass sie sich leicht zurückziehen und verstecken konnte, zugleich aber bekam sie frische Luft und hatte das angenehme Gefühl, nicht unter lauter Toten zu warten.
Trotzdem musste der Plan irgendwie fehlgeschlagen sein. Nimrod und Cheftu hätten schon vor Doppelstunden hier sein müssen. Es war erneut dunkel geworden. Die Trommeln schlugen, leise zwar, doch sie schlugen.
Alles das, nur um sicherzustellen, dass die Sonnenfinsternis tatsächlich nur eine Sonnenfinsternis blieb und dass die Sonne genau wie nach dem abendlichen Zwielicht zurückkehrte.
Das war der einzige Grund für die gesamte Übung. Was hatte nur dazwischenkommen können? Bei einer Sonnenfinsternis wurde die Sonne finster und damit Schluss. Welche Zeichen konnten die Seher beobachtet haben, dass die Trommeln nach wie vor schlugen?
Vielleicht sind die Beerdigungsfeierlichkeiten noch nicht abgeschlossen, überlegte sie. Es ist gar nichts passiert, sie brauchen nur länger als ursprünglich geplant, bevor sie sich absetzen können.
Sie hatte kein Wasser; in ihrem Beerdigungsgewand war kein Platz für einen Wasserschlauch gewesen. Und zu essen hatte sie auch nichts. Denk bloß nicht an Süßigkeiten, ermahnte sie sich. Halva, dachte sie im nächsten Moment. Der vorchristliche Knabberriegel.
Auch den hast du nicht, also denk lieber an ... Käfer.
Die gebratenen Kakerlaken im Basar, die eingelegten Würmer, die wie Kalamari verkauft wurden, Ameisensuppe, Grashüpferkuchen - okay, langsam verging ihr der Appetit. Sie schnippte eine Spinne von ihrem Arm und starrte in den Tunnel.
»Erst Volldampf geben und sich dann die Beine in den Bauch warten«, grummelte sie. »Allmählich wird das zu meinem Motto.«
Cheftu bewegte mechanisch die Lippen und verließ sich dabei ganz auf seine nie absolvierte Ausbildung, auf die ihm verschlossenen Erinnerungen. Die Mandanten gingen so frohgemut, so stolz in den Tod. Sie betrachteten das als Ehre. Das Leben war nur dazu bestimmt, den wankelmütigen, anthropo-morphen Göttern zu dienen, wobei man manchmal eine Wette gewann und manchmal verlor.
Im tiefsten Herzen war Cheftu ein Mann der Frühzeit. Er begriff, welche Verwirrung, Verzweiflung und Verunsicherung eine Missernte, eine Überschwemmung, eine
Weitere Kostenlose Bücher