Die Häupter meiner Lieben
aber am nächsten Morgen zurückfahren. Ich lag erschöpft mit Jonas im Zimmer seiner jüngsten Schwester, während die Gäste draußen weiterfeierten und immer lauter wurden. Erst als es hell wurde, zogen sie allmählich davon. Die fleißigen Geschwister begannen aufzuräumen.
Beim Frühstück setzten Wehen ein, sechs Wochen zu früh. Es blieb mir erspart, bis zum Umzug auf dem Hof zu wohnen, denn man legte mich im Krankenhaus an einen wehenhemmenden Tropf, bis ich - vierzehn Tage vor der Zeit - meinen quittengelben Sohn gebar.
Grau in grau
Coras Psychologe hatte einmal das Wort »Wohlstandsverwahrlosung« gebraucht. Sie hat das längst vergessen, aber mir spukt es immer noch im Kopf herum. Seit ich selbst ein Kind habe, lese ich gelegentlich pädagogische und psychologische Zeitungsartikel. Manche Eltern mühen sich ab, informieren sich bei Erziehungsberatern, um alles perfekt zu machen, und ihre Kinder werden trotzdem neurotische Musterexemplare. Dann hört man von Eltern, die ihre Kinder schlagen und eigentlich alles falsch machen. Dennoch kann es passieren, daß diese Kinder stabile und sogar glückliche Menschen werden. Es ist so ähnlich wie mit den Hundertjährigen, die ein Leben lang geraucht, gesoffen und gefressen haben. Ich denke, es wird meinem Kind nicht schaden, wenn ich ab und an ein wenig stehle und dabei etwas zu meiner eigenen Erheiterung unternehme. Natürlich immer unter der Voraussetzung, daß ich nicht erwischt werde. Ein Kind braucht eine zufriedene Mutter, keine, die aus Verantwortungslosigkeit im Gefängnis sitzt.
Die Heirat machte aus mir alles andere als eine zufriedene Ehefrau und Mutter. Jonas und mir fehlte eine entscheidende Gemeinsamkeit: der ähnliche Geschmack. Natürlich dachte ich in der Arroganz meiner achtzehn Jahre, er sei ein Hinterwäldler und ich müsse ihn umerziehen.
Es begann mit dem bösen Streit um den Namen unseres Kindes, das wir in den ersten Tagen liebevoll »Kanari« nannten, weil wir uns nicht einigen konnten. Schließlich gingen wir einen Kompromiß ein: Jonas durfte den Namen »Bartholomäus«, kurz »Barthel«, eintragen lassen, denn der erste Sohn des Hoferben muß traditionsgemäß »Barthel Döring« heißen. Zwar hatte Jonas noch einen älteren Bruder, der selbst so hieß, aber als Ordensmann hatte er sich um die Weitergabe des Bartholomäus drücken können. Als Ausgleich für diese Härte durfte ich einen zweiten Namen wählen, der als Rufname gelten sollte. Listigerweise stimmte ich für Béla, nach meinem Lieblingskomponisten, so daß der Junge »Béla Barthel« hieß. Diese Kombination brachte manchen zum Lächeln; Jonas fühlte sich verraten.
Unsere Möbel waren fast alle häßlich. Sie waren von bäuerlichen Dachböden geliehen und hatten den Charme des Ausrangierten. Aber in diesem Punkt konnte es keinen Streit geben, denn wir hatten kaum Geld und mußten damit vorliebnehmen. Es ging um den einzig edlen Gegenstand, die seladongrüne Schale, die ich nach zweijährigem Versteck endlich auf unserem verkratzten Kunststofftisch aufstellen konnte. Jonas fand sie scheußlich und meinte arglos, dies sei das erste Stück, das er beim nächsten Gehalt durch einen skandinavischen Glasteller ersetzen werde.
Wir lebten in einer Zweizimmerwohnung in einem ehemaligen Dorf, das jetzt von pendelnden Arbeitern bewohnt wurde. In ihren frisch gebauten Zweifamilienhäusern vermieteten sie steuersparend die Einliegerwohnung. Die Häuser waren alle ähnlich; sauber, klein mit ordentlichen Vorgärten. Eine Tafel >Kehrwoche< hing alle vierzehn Tage an unserer Wohnungstür.
Jonas arbeitete hart. Erst später verstand ich, daß er für sein Tagewerk länger brauchte als seine Kollegen. Während diese, mit einem Kompliment auf den Lippen und einem Werbegeschenk in der Hand, sich gewitzt die Gunst der Arzthelferinnen sicherten und zwischen zwei angemeldeten Patienten diskret zum Arzt schlüpfen durften, hockte Jonas stundenlang im Wartezimmer, bis er an der Reihe war. Er kam immer spät nach Hause.
In meiner ersten Zeit als Hausfrau und Mutter fühlte ich mich überfordert. Ich war schließlich noch ein Teenager. Wenn Béla Schnupfen hatte, fürchtete ich, er könne mir unter den Händen wegsterben. Zum Glück verlor er in kurzer Zeit seine Gelbfärbung, Augen und Härchen wurden dunkelbraun. Ich war bezaubert, ich fand ihn hinreißend und war in manchen Momenten überglücklich. Aber der Tag bestand aus vielen grauen Stunden, in denen ich einsam war,
Weitere Kostenlose Bücher