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Die Häupter meiner Lieben

Die Häupter meiner Lieben

Titel: Die Häupter meiner Lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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wurde nur selten mit einem Kartengruß bedacht. Sie machte sich Sorgen. Cora hatte mir kürzlich geschrieben, sie habe sich in einen Mann verliebt, der älter als ihr Vater sei. Ich verschwieg dieses Detail.
     
    Als ich eines Abends hörte, daß Jonas heimkam, und erfreut die Tür aufriß, sah ich hinter ihm eine geduckte Gestalt. In zerlumpten Kleidern, wie ein Stadtstreicher, stand Vater vor mir. Er sei »auf der Flucht«. Wovor? Schulden, sagte er, seine Miete und seine Stromrechnung seien nicht bezahlt, in den Geschäften gebe man ihm keinen Kredit mehr.
    »Und was ist mit deiner Stelle als Blutbote?« fragte ich. »Ich habe keinen Führerschein mehr...«
    »Aber du wirst doch Arbeitslosengeld beziehen?« Darum hatte er sich nicht gekümmert. In einem Anflug von alkoholischer Fehleinschätzung hatte er sich als heimatlos betrachtet und war von Lübeck zu uns getrampt.
    Ich ließ ihm Badewasser ein und sagte, bevor er sich nicht gewaschen habe, gebe es nichts zu essen. Jonas sagte nichts. Natürlich paßten meinem Vater die schmalen Anzüge von Jonas nicht; also saß er nach dem Baden in einem viel zu knappen Frotteemantel am Tisch und sah noch verkommener aus als bei meinem ersten Besuch in Lübeck.
    Ich überlegte ununterbrochen, wie man ihn loswerden könnte. Wir hatten nur das Sofa für Gäste, wir hatten ein Baby und wenig Geld. Die Badewanne war von Vater mit einem schwarzen Rand hinterlassen worden.
    Als ich mit Jonas im Bett lag und Vater im Wohnzimmer schnarchte, flüsterte ich: »Du mußt ihn morgen rausschmeißen!«
    »Warum ich? Aber abgesehen davon, man kann den armen kranken Mann nicht einfach auf die Straße jagen.«
    Ich wurde lauter, weil ich mich aufregte. »Wieso arm, wieso krank? Faul und versoffen ist richtig.«
    »Man hat als Christ die Pflicht, seine Eltern zu ehren.«
    Nun platzte ich. »Ich kann ihn nicht ertragen!« und ich heulte so laut, daß Béla wach wurde und mit mir weinte.
    Vater erschien in der Tür, ohne anzuklopfen. »Ist das Geschrei wegen mir? Morgen bin ich weg.«
    Es verging ein Tag nach dem anderen, an dem ich Vater rauswarf und er demütig versprach, am nächsten Tag abzufahren. Die Fahrkarte, die ich ihm gekauft hatte, war verschwunden. Unser Kind hatte er sich kaum angesehen; er verzog das Gesicht, wenn der Kleine weinte, als geschehe es bloß, um ihn in seiner Ruhe zu stören.
    Als Vater eines Tages beim Schnapsstehlen erwischt wurde, was er völlig dilettantisch angefangen hatte, geriet auch der milde Jonas in Wut. Mit Interesse beobachtete ich, daß mein Ehemann einen grenzenlosen Abscheu vor Dieben hatte. Vater hatte die Flasche Bier, die ich täglich für Jonas kaufte, schon an den unmöglichsten Stellen aufgespürt. Ich wußte, daß man einen Trinker nicht gegen seinen Willen durch plötzlichen Entzug heilen kann, und brachte ihm stets einen billigen Rotwein mit. Doch eine Literflasche pro Tag war ihm zu wenig.
    Nervös und weinerlich, trotz meiner Jugend, hätte ich am liebsten selbst zur Flasche gegriffen. An diesem Tag - Béla und Vater hielten gerade in ekstatischer Faulheit ihren Mittagsschlaf- rief Cora aus Italien an. »Wir können ruhig ein bißchen quatschen, ich brauche es nicht zu bezahlen«, sagte sie. Ich sprudelte über. Cora erzählte, daß ihr neuer Freund vor einer Woche ein Haus gekauft habe, groß und schön, und daß sie auch darin wohne. »Vom ersten Stock aus sieht man grüne Hügel! Ich habe einen guten Tausch gemacht, mein altes Zimmer war ein Loch, und außerdem mußte ich eine halbe Stunde mit dem Bus nach Florenz fahren. Jetzt habe ich alles wie zu Hause!«
    »Und einen neuen Papa«, sagte ich.
    »Das ist ja das Gute! Junge Männer haben weder Geld noch Häuser, noch Badesalz.«
    Ich beneidete Cora. Sie bot mir an, ich könne unverzüglich nach Italien kommen. »Und Béla?«
    »Natürlich mit Béla. Du kannst ihn nicht gut bei deinem Vater lassen, wenn Jonas tagsüber Klinken putzt.«
    An diesem Abend hatten wir alle Streit, jeder mit jedem, dabei schrie das Kind unermüdlich. Ich beschloß, am nächsten Tag wegzufahren.
    Als Jonas morgens das Haus verlassen hatte, packte ich Kinderkram, bereitete mehrere Flaschen mit Babynahrung vor, brachte die chinesische Schale im Keller in Sicherheit, schrieb einen lauen Zettel an Jonas und bestellte mir ein Taxi. Vater schlief bis Mittag wie ein Toter, darauf konnte ich mich verlassen.
    Die Reise mit Säugling, Kinderwagen und zwei Koffern war ohne fremde Hilfe beim Ein-, Aus- und Umsteigen nicht

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