Die Haischwimmerin
doch eigentlich erledigt. Hier liegt der Mörder. Er hat sich seiner Festnahme entzogen und ist aus dem Fenster gesprungen. Reicht das nicht?«
»Bei einem Mörder möchte man halt gerne wissen, warum er gemordet hat.«
Nun, das konnte Lilli auch nicht genau sagen, obgleich das Prinzip des Folterns offenkundig war. Aber gefoltert wurde aus verschiedenen Gründen, wenngleich allen Gründen die Lust am Quälen unterlagert war. Sicher, die Lust entsprang einem Trieb. Aber das galt schlieÃlich für alles. Der Mensch hatte sich ständig zu entscheiden, ob er einem Trieb nachgab oder nicht. Einem bestimmten Trieb nachzugeben hieà stets, einen anderen abzuwehren.
Wenn Lilli diesen Landschaftsplan betrachtete, die Fragezeichen und Kreuze und Häkchen, die Verbindungslinien und Notizen, so kam ihr der Verdacht, hier hätte jemand versucht, einen bestimmten Baum oder eine bestimmte Ansammlung von Bäumen ausfindig zu machen, ja, man konnte meinen, es mit einer Art von Schatzkarte zu tun zu haben. Und wenn man nun bedachte, daà diese Bäume vom pharmazeutisch-industriellen Standpunkt den allerhöchsten Wert besaÃen ⦠Nun, das galt eigentlich für sämtliche der Lärchen, da schlieÃlich eine jede über besagte Substanz zur Abwehr von FreÃfeinden verfügte. Warum also â¦?
Lilli fühlte sich getroffen. Sie schaute auf ihre Schulter. Ein einzelner Tropfen zerfloà auf dem hellen, breiten Träger ihres leichten Sommerkleids und bildete dort einen dunklen Flecken. Lilli hätte nicht gleich sagen können, ob es sich um Wasser oder Blut handelte. Sie blickte nach oben, als halte sie nach der schwebenden Leiche Jola Foxâ Ausschau. Aber da war kein Körper, statt dessen erwischte Lilli einen weiteren Tropfen, der auf ihrer Wange aufschlug. Es kam ihr vor, als zerbreche die dünne Schale eines Eis auf der gespannten Fläche ihrer Haut. Das Innere des Eis verteilte sich, brutzelte ein wenig, als brate jemand ein Spiegelei auf einem heiÃen Stein. Ja, Lilli fühlte sich fiebrig, als da weitere Tropfen nach unten fielen. Es begann zu regnen. Nicht Blut, sondern Wasser, immer heftiger, rasch einen mächtigen Schauer bildend, ein enggewobenes Netz. Wenn es sich um göttliche Tränen handelte, dann keine der Trauer, sondern der Wut. Die Leute flüchteten in ihre Häuser.
»Kommen Sie!« rief Yamamoto durch den Regen. Lilli konnte ihn kaum noch sehen. Selbstredend hatte sie die Karte rasch wieder zusammengefaltet und in ihrer wasserdichten Tasche untergebracht. Sie selbst aber stand wie versteinert im Regen. Es fühlte sich gut an. AuÃerdem war sie froh, hinter dem dichten Wasserband Yamamoto endgültig aus den Augen verloren zu haben. Sie hörte nur noch seinen Ruf. Als sie sich endlich in Bewegung setzte, wählte sie die entgegengesetzte Richtung. Sie hatte beschlossen, noch einmal den Lärchenwald aufzusuchen. Und da konnte sie Yamamoto nun mal nicht gebrauchen.
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Die Frage, wie es in einer unterirdischen Stadt zu einem derart heftigen Regen kommen konnte, ergab sich aus einer anderen unbeantwortbaren Frage, nämlich der nach einer omenhaften SchwarzweiÃverfinsterung. Zum bösen Omen gehörte nun mal der machtvolle Einbruch der Natur: Stürme, Erdbeben, Ãberflutungen, Vulkanausbrüche, Himmelserscheinungen, Kometen, letztendlich wundersame Fügungen, die sich schwer erklären lieÃen. Das schwer Erklärbare war das stärkste Mittel der Natur, den Menschen zu demütigen.
20
Der Regen endete, wie er begonnen hatte, abrupt. Letzte Tropfen fielen. Auf eine dramatische Weise vereinzelt, so daà man den Eindruck gewinnen konnte, sie seien mit den erstgefallenen identisch, gewissermaÃen Wiedergänger, Untote, deren Seele nie erlöst wird und die ständig aufs neue zur Erde stürzen, zerschellen, zerflieÃen, auf warmer Haut und warmem Beton.
Lilli kramte einen kleinen Zettel hervor, auf dem der Portier die Lage des Hotels eingezeichnet hatte. Mit Hilfe von Passanten gelang es ihr nun auch, den kleinen Brunnenplatz zu erreichen, an dem das Gebäude lag. Der Boden vor dem Eingang dampfte. Lilli setzte sich auf eine Bank, frisierte ihr noch feuchtes Haar, nahm ihre Puderdose und gab sich einen frischen Anstrich. Das Rouge auf ihren Wangen wirkte wie der Schatten zweier unsichtbarer Scheiben. Kleine schwebende Teller.
Lilli betrat das Hotel.
Natürlich erkannte sie
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