Die Haischwimmerin
ist nicht der Bürgermeister von Ochotsk, sondern der Zar von Ochotsk«, erklärte Spirou. »Und er will Sie sehen, heute, nicht morgen.«
»Aber das Wetter!?«
Spirou machte ein ratloses Gesicht. Er fragte: »Was ist mit dem Wetter?«
»Schon gut«, resignierte Ivo. Die Wettersache war von vornherein ein Problem gewesen. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte er seine Reise erst in einigen Wochen angetreten, wenn die Schmelze begann und die Flüsse eisfrei wurden. Aber seine Auftraggeber hatten auf einem sofortigen Aufbruch bestanden, damit man bei der erstbesten Möglichkeit die Suche nach einem Baum beginnen konnte, über dessen möglichen Standpunkt bisher nur recht ungenaue Angaben vorlagen. Natürlich hatte Ivo fest damit gerechnet, auf den Mann zu treffen, der die Lärche entdeckt und den Zapfen nach Ochotsk gebracht hatte. Doch dieser war ja nun tot. Ãberhaupt entwickelte sich die Sache anders, als er gehofft hatte. Er war in keiner Weise darauf vorbereitet gewesen, dem kriminellen Stammeshäuptling dieses Ortes begegnen zu müssen. Er hatte gedacht, diesen Part hätten die NOH-Leute in jeder Hinsicht geregelt. Dabei war es ihm nicht einmal möglich, in der Konzernzentrale anzurufen oder auch nur Dr. Kowalsky zu kontaktieren. Dies war ihm ausdrücklich untersagt worden. Gab es Probleme, so sollte er sich allein mit den beiden Mitarbeitern vor Ort besprechen. So wie es aussah, handelte es sich bei diesen »Mitarbeitern« um einen dreizehnjährigem Jungen mit frankobelgischem Comiceinschlag und einen ausgemusterten Wissenschaftler, der mit alten Telephongeräten auf der ebenso alten parapsychologischen Sowjetschiene fuhr. Und dazu gab es auch noch irgendwie ein Loch in der Erde. Famos!
»So soll es sein«, murmelte Ivo Berg, erhob sich vom Tisch und gab Galina durch ein Zeichen zu verstehen, wie sehr es ihm geschmeckt habe. Ein Zeichen, das darin bestand, sich mit dem Finger über die Unterlippe zu streichen. Was allerdings aussah, als dokumentiere er, von der Suppe geküÃt worden zu sein. Wenn schon nicht von der Köchin. Nun, er war nun mal ein Womanizer, wie das heutzutage heiÃt. Doch eins war mindestens so sicher, daà Galina Oborin mitnichten die Frau war, die sich von einem traurig-romantischen Blick oder von einer kleinen Fingergeste beeindrucken lieÃ.
Derweilen sah Spirou auf seine Uhr, einen Chronometer von der Art einer bläulichen Beule, eines Planetariums, wo sich zwischen vielen Zeigern auch die Uhrzeit verbergen mochte, und meinte: »Wir müssen los, wenn wir pünktlich sein wollen. Lopuchin mag Pünktlichkeit.«
»Und wenn man zu spät kommt?«
»Warum sollten wir das tun? Wozu Lopuchin ärgern?«
»Kluger Junge«, sagte Ivo und ging hinüber in sein Zimmer, um sich für den Weg durch die Kälte einzukleiden.
Das war auch besser so. Denn kurz darauf saà er erneut auf dem Rücksitz des Rollers. Spirou freilich schien zu keiner Zeit auf sein Pagenkostüm als äuÃerster Hülle zu verzichten. In dieser Hinsicht hätte man ihn für einen roten Pinguin halten können.
Der Scheinwerfer zwängte einen zitternden Kegel in die Schwärze, der mehr die Flocken als die StraÃe beleuchtete. Wo auch immer die russische Schneeräumung unterwegs war, nicht in Ochotsk. Das Motorrad schlitterte. Ivo vergrub seinen Blick in die Rückseite von Spirous Jackett.
Irgendwann bremste das Vehikel ab, und Spirou rief in den Wind hinein: »Wir sind da!«
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Lopuchin thronte in der Mitte eines weiten Sofas, die Beine übereinandergeschlagen, die Arme über die Lehne gebreitet. Einzig dieses Sofa sowie ein leerer Sessel standen im Licht, der Rest des Raums und der Rest der Leute in diesem Raum verblieben im Dunkel. Rembrandt lieà grüÃen. Und auch der Teufel lieà grüÃen. Sollte er je auf einer Wolke hocken, dann würde er wohl so aussehen wie dieser Mann in seinem Möbel. Und in der Tat war Lopuchin der Teufel vor Ort. Er trug einen schmalen Schnurrbart, welcher haargenau die Oberlippe zitierte. Er hatte einen dunklen Teint und trug ein ungemein enges, kakaobraunes Hemd, das seinen schlanken Gepardenkörper prägnant herausstellte. Offensichtlich gehörte auch er zu denen, die allein aus Knochen bestanden. Aber nicht so wie Ivo, der sich bekanntermaÃen aus ausgespuckten Knochen zusammensetzte. Die Skeletteile
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