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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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ganz richtig den Begriff Toad’s Bread mit »Krötenbrot« übersetzte. Auch wußte er dank seiner botanischen Ausbildung, daß es sich beim Krötenbrot um eine der vielen Namen für den Holzsymbionten Amanita muscaria handelte, welcher in der deutschen Sprache jedermann als Fliegenpilz vertraut ist.
    Ebenso bekannt war Ivo, wie sehr dieser Pilz im sibirischen Schamanismus eine Rolle spielte. Aber nicht nur. Der hübsche rotgehaubte und weißgeflockte Hutschwamm aus der Familie der Wulstlinge düngte auch den christlichen Boden. So gab es etwa die Theorie, nach welcher Jesus in Wirklichkeit ein Fliegenpilz gewesen sei und das Urchristentum einen Fliegenpilzkult praktiziert habe. Das Fleisch Christi wäre demnach nichts anderes als das jenes psychoaktiven Pilzes, der nicht zuletzt so manchem Zwerg als gemütliche Wohnung dient und mit besagten Kröten ein mythologisches Paar bildet.
    Alles schön und gut, aber was hatte dieser Pilz mit einer Bohrung zu tun, welche von Sowjethelden einst im geheimen vorgenommen worden war? Und wie mußte man sich eine Stadt vorstellen, die in einem solchen Loch steckte? Oder hockte sie? Zusammengekauert? Das wollte Ivo wissen.
    Nun, Lopuchin erklärte. Spirou übersetzte. Ivo staunte.
    Ja, er staunte ob der Beschreibung besagten Ortes. Nach dem Zerfall des Arbeiter- und Bauernstaates waren das Projekt im Dschugdschur beendet und die Bautrupps sowie die beteiligten Wissenschaftler zurückbeordert worden. Man hatte das Loch vollkommen aufgegeben. Es ging sowieso nicht noch tiefer. Wie es nun scheint, war in der Folge eine Gruppe entflohener Häftlinge in einem der unwegsamen Gebirgstäler auf die Grabung gestoßen, um alsbald festzustellen, daß die Sowjets nicht nur ein Loch in die Erde getrieben hatten, sondern in einer Tiefe von ungefähr sechzig Metern auch einen horizontalen Schacht, der in eine künstliche Höhle führte. Eine gewaltige Einrichtung, deren Sinn und Zweck es wohl hätte sein sollen, der militärischen und politischen Nomenklatura im Katastrophenfall als Rückzugsort zu dienen. Allerdings war einzig der Rohbau fertig geworden, immerhin aber ausgestattet mit einem funktionierenden Entlüftungssystem und einer ausgesprochen intelligenten Energieversorgung. Zudem waren die oberirdischen Ausformungen geschickt in die Landschaft integriert worden. Die Augen der Satelliten täuschend.
    Im Laufe der Jahre war nun dieses vergessene Areal von immer mehr Menschen in Besitz genommen und verwandelt worden. Menschen, die aus diversen Gründen eine Stätte aufsuchten, an der sie vor Verfolgung verschont blieben. So entstand nach und nach eine unterirdische Stadt, eine geheime Zuflucht nicht allein für Russen. Menschen aus ganz Asien hatten sich hier eingefunden, überraschenderweise noch mehr Japaner als Chinesen, später kamen Amerikaner dazu, Australier, schließlich auch Europäer. Nicht alle hatten einen kriminellen Hintergrund, es waren teils ganze Familien und Sippschaften, die von weit her gereist kamen. Das Vorhandensein dieser Stadt sprach sich herum und blieb dennoch geheim. Es wurde gehandelt, kleine Handwerksbetriebe entstanden, Straßenküchen, Wäschereien, Friseurläden, Schneidereien, Fleischereien, Geschäfte mit okkulten Gegenständen und Arzneien. Doch auch Schulmediziner siedelten sich an, Ärzte, die nirgends auf der Welt mehr eine Praxis hätten betreiben dürfen. Hier durften sie. Viele Leute kamen nach Toad’s Bread, um etwas zu tun, was man ihnen zu Hause verwehrte. Und sei es das pure Existieren. Wobei interessanterweise nichts von dem, was in dieser Stadt entstand, was in diesem Reich der Kröten fabriziert wurde, jemals auf irgendeinen der Weltmärkte gelangte, nicht einmal hinüber nach Ochotsk. Man kann es so ausdrücken: Brot, das in Toad’s Bread gebacken wurde, wurde auch in Toad’s Bread gegessen, ausnahmslos.
    Wie gesagt, nicht jeder in dieser Stadt war ein Verbrecher, doch der kriminelle Geist dominierte. Das übliche: Prostitution, Drogen, Waffen, Raub, Erpressung. Aber auch in dieser Hinsicht drang nichts nach außen. Jede Droge, die in dieser ungemein engen und enger werdenden Wohn- und Arbeitsmaschine hergestellt wurde, wurde hier auch konsumiert. Wie allerdings die diversen Rohstoffe in das Loch gerieten, blieb unklar. Ein Gerücht besagte, daß unterhalb der von harten Wintern bestimmten kargen

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