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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Vegetationsdecke eine gar nicht so karge Agrikultur entstanden war, die mittels Lichtschächten und Wasserkanälen und einer bedeutenden Erdwärme am Leben und Blühen gehalten wurde. Aber wie gesagt, dies war ein Gerücht, eher konnte man annehmen, daß, wenn schon nichts dieses Loch nach außen verließ, sehr wohl einiges von außen in das Loch gelangte, eben nicht bloß Menschen, sondern mit ihnen ein wenig vom Reichtum der Welt. Faktum war auf jeden Fall, daß in politischer Hinsicht die Gesellschaft von Toad’s Bread eine vollkommen autarke darstellte. Ein selbstverwaltetes Kollektiv. Sosehr das kriminelle Element vorherrschte, war es keine der üblichen mafiosen Vereinigungen, die das Sagen hatte. Vielmehr gab es strenge Regeln, die eben nicht zuletzt das kriminelle Zusammenleben bestimmten. Toad’s Bread war eine Verbrecherrepublik durchaus im Sinne einer aufgeklärten Gelehrtenrepublik. So befand sich etwa die Prostitution vollkommen in den Händen der Frauen. Wobei dies keineswegs bedeutete, daß es sich um eine »menschenfreundliche« Prostitution handelte, denn wie hätte die denn aussehen sollen? Was aber fehlte, waren die Exzesse, war die Unordnung, das ständige Überschreiten von Grenzen. Kein Platz für Zuhälter, statt dessen organisierte ein Frauenverband den Strich. Dies hatte unter anderem dazu geführt, daß es unter den Prostituierten keine Minderjährigen gab und gewisse unwürdige Praktiken als Tabu galten. Wollte aber ein Mann in dieses Geschäft einsteigen, so riskierte er, aus Toad’s Bread hinausgeworfen zu werden. Und wer einmal rausflog, hatte keine Chance, wieder hineinzugelangen. Die wenigen Leute, denen es erlaubt war, zwischen Toad’s Bread und der Außenwelt zu wandeln, waren Auserwählte, Agenten oder Anwälte des Kollektivs, die Jobs zu erledigen hatten. Etwa den Job, jene zum Schweigen zu bringen, die damit drohten, das Geheimnis dieser Stadt zu lüften. Aber das hatte ohnehin noch niemand ernsthaft versucht. Sicher, es gab auch einige »wilde« Agenten, deren Interessen unklar blieben. Aber weder fielen sie ins Gewicht, noch fielen sie auf.
    Bei aller Kultivierung des Verbrechens ergab sich als absolut wichtigster Aspekt in dieser Stadt die Versorgung der Bevölkerung mit frischen oder getrockneten Fliegenpilzen. Die ersten Bewohner der Stadt, jene entkommenen Häftlinge, hatten sich auf ihrer Flucht von selbigen Schwämmen ernährt. Denn es muß ja gesagt werden, daß der Fliegenpilz entgegen seiner in der westlichen Welt so energisch propagierten Giftigkeit durchaus zu genießen ist – getrocknet, in Rauchmischungen, in Bier und Wein gebröselt, eingelegt in Schnaps, ja sogar als Urin, als Menschenurin wie als Rentierurin, aber eben auch als frischer Pilz in Butter gedünstet. Und zwar als ein sehr schmackhafter Pilz. Welcher bekanntermaßen visionäre und rauschhafte Wirkungen besitzt und einem nicht zuletzt das Gefühl beschert, fliegen zu können. Jedoch absolut ungeeignet scheint, mittels seiner behaupteten Giftigkeit jemanden umzubringen. Als Untergrenze für eine tödliche Dosis gilt eine Menge von zehn Pilzen. Aber was, bitteschön, ist nicht in irgendeiner Form giftig und tödlich, wenn man sich zehn Stück davon ungebremst einverleibt? Etwa politische Talk-Shows oder Lyriklesungen.
    Jedenfalls war der Fliegenpilz zum Symbol dieser Stadt geworden und lieh ihr zudem seinen Namen. Abbildungen von Amanita muscaria schmückten jedes der unterirdischen Quartiere, zudem prangte das Emblem auf T-Shirts, auf Plakaten und dekorierte die Grabstätten. Getrocknete Stücke wurden den Neugeborenen auf die Stirn gelegt. Wer heiratete, opferte ein besonders schönes Exemplar den Göttern. Und natürlich war der Genuß in allen möglichen Formen ein wesentlicher Bestandteil des Lebens von Toad’s Bread.
    Â 
    Â»Ich kann da nicht mehr hin«, erklärte Lopuchin, »keine Chance. Ich wäre schneller abserviert, als ich mich entschuldigen könnte. Niemand dort will meine Entschuldigung.«
    Â»Bei wem entschuldigen?« wollte Ivo wissen.
    Doch Lopuchin erklärte nicht, welche Leute das waren, die auf eine Entschuldigung seinerseits verzichteten. Und was man unter »abservieren« zu verstehen hatte. Aber im Grunde konnte Ivo sich denken, daß Lopuchin einst in Toad’s Bread gelebt und schlußendlich gegen eine der

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