Die Haischwimmerin
umsonst gewesen. Nein, mein Freund, es ist gut, wie es ist.«
Jemand im Hintergrund lachte. Lopuchin fuhr ihn an. Sofort war Ruhe. Ganz klar, was Lopuchin getan hatte, war nicht aus seiner Lust an der Gewalt geschehen. Nein, er hielt es schlichtweg für das einzig Richtige.
Lopuchin sagte etwas zu Spirou, dann wandte er sich um und verschwand in einem der tiefschwarzen Ausläufer des Raums, ohne daà man hätte feststellen können, ob er den Raum auch wirklich verlassen hatte oder sich bloà in die Peripherie eines Rembrandtschen Gemäldes zurückgezogen hatte.
Der Mann mit dem Notfallkoffer desinfizierte die Wunde, legte einen Verband an, erhob sich und folgte seinem Herrn in die Dunkelheit. Wieder hörte man keine Türe. Dennoch trat eine Stille ein, die nahelegte, daà Ivo und Spirou jetzt allein waren.
»ScheiÃe, ich bin in die Hölle geraten«, meinte Ivo und verabreichte sich eine Globulidosis Arsenicum album.
»Es tut mir leid«, sagte Spirou. »Ich habe nicht gewollt, daà er Ihnen weh tut.«
Ivo sah Tränen in den Augen des Jungen.
»Nicht deine Schuld«, betonte Ivo. Er strich dem Kind über die Wange, eine Träne auffangend, die nun ihre Tropfenform verlor und sich als seichter Bach über den Finger verteilte. Das Naà der Träne trocknete so rasch, als blase jemand Dritter seinen warmen Atem darüber.
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Als wenig später Galina sich die Wunde ansah, seufzte sie kurz. Sie wies den Verwundeten an, sich auf einen niedrigen Fauteuil zu setzen. Dann ging sie hinüber zum Küchenschrank, aus dem sie mehrere GefäÃe zog. Sie erhitzte einen Topf mit Rentiermilch und begann, eine Paste zuzubereiten. Dazu gab sie Geräusche von sich, als singe sie durch die Nase.
Das Schönste am Hokuspokus ist, wenn er wirkt.
Vielleicht jedoch war es einfach eine gute Salbe. Doch so gut sie war, die Narben würden bleiben. Aber das war ja auch der Sinn der Sache.
10
»Kann man das eigentlich als Winter bezeichnen?« fragte sich Ivo Berg in diesen vielen Wochen, die er recht untätig in Ochotsk zubrachte. Der Winter nämlich, der ihm vertraut war, fühlte sich ganz anders an, der Winter aus Wien und der aus Rom und auch jener heftige, den er einst erlebt hatte, als er mit Lilli in Giesentweis angekommen war. Der europäische Winter entsprach dem, was man ein Kleid nennt, ein Kleid, das man hin und wieder trägt, aber mit dem man sich natürlich nicht ins Bett begibt, sondern das man am Abend in den Schrank hängt. Der sibirische Winter hingegen war weniger ein Kleid als eine Haut â ein Film, der sich über alles und jeden legte: ein Film in beiderlei Sinn des Wortes, also sowohl als eine dünne Schicht als auch als Projektion bewegter Bilder, Bilder vom Winter, die quasi in der Art veränderlicher Tattoos einen jeden Gegenstand und Körper illustrierten. Die Dinge, die Häuser, Tiere und Menschen dieser Gegend waren nicht nur vom Winter umgeben, sondern trugen ihn mit sich herum, während der durchschnittliche Mitteleuropäer eigentlich ständig auf der Flucht vor dem Winter war oder mittels Wintersportarten versuchte, den Winter lächerlich zu machen.
Das wäre hier schwerlich gegangen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, den Winter zu persiflieren. Immerhin saà der Winter â egal, wie stark man heizte â mit am Tisch und hörte jedes Wort, das man sprach.
In jedem Fall war es für Ivo Berg eine gute Zeit, auch wenn er seinen eigentlichen Auftrag noch nicht in Angriff nehmen konnte und er es wohlweislich unterlieÃ, sich im Ort zu zeigen. Er verzichtete also darauf, die Kneipen Ochotsks aufzusuchen und dabei an Leute zu geraten, die den Umstand fünf punktgroÃer Narben auf seiner linken Wange als Aufforderung verstanden hätten, eine Schlägerei zu beginnen. Doch ohnehin war Ochotsk kein Eldorado gastronomischer Einrichtungen. Wodka gab es auch bei Galina, einen sehr guten, in dessen Flaschen ein Zopf zusammengebundener Gräser schwamm, auch wenn diese Gräser eher wie Haare aussahen, aber das anzunehmen, verbat sich Ivo. Nicht zu vergessen die Suppen der Galina Oborin, die hier Tag für Tag serviert wurden und die man zu allen drei Mahlzeiten konsumierte. Dazu gab es oft Kartoffeln, bei denen Ivo immer an diese Szene aus der historischen Fernsehverfilmung des Seewolfs denken muÃte, wenn Raimund Harmstorf eine rohe Kartoffel
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