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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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in Kartoffeln oder Zwiebeln, andere in Bodenlöchern oder in mit Erde gefüllten Töpfen. Sobald Oborin eine neue Anlage installiert hatte – und tatsächlich schien der in der Kunst gebräuchliche Begriff Installation hier sehr viel angebrachter –, setzte er sich mit einem Schreibheft vor das jeweilige Wählscheibengerät. Darunter nicht wenige deutsche Produkte, eine ganze Serie sogenannter FeTAp 611, erstmals 1961 konstruierter Fernsprech-Tisch-Apparate, die dann Ende der siebziger Jahre in einem wunderbaren Orangeton auf den Markt gekommen waren. Gerade solche Apparate dominierten die Oborinsche Kommunikationszentrale, wobei jene Geräte, welche aktuell in Verwendung standen, mit einem Abdeck- und Schutzhäubchen ausgestattet waren. (Ivo war alt genug, sich an die unglaublichen textilen Schonbezüge aus Samt oder Cord zu erinnern, mit denen gewisse Hausfrauen ihre Telephonapparate versehen hatten. So ähnlich wie bis heute Dackel und Pudel bekleidet werden, um gegen die Härten einer gegen Kleinlebewesen unfreundlichen Umwelt gewappnet zu sein.)
    In Oborins Fall handelte es sich allerdings nicht um industriegefertigte Abdeckungen, sondern um eigenhändig bemalte Stoffe, auf denen Tier- und Menschensymbole zusammen mit den Abbildungen technischer Konstrukte – viele Traktoren und Nähmaschinen – eine kompositorische Einheit bildeten. Auch das wirkte nun ausgesprochen schamanistisch, wenngleich Oborin auf Gesänge und Trommelei verzichtete. Gar nicht schamanenhaft mutete hingegen der Einsatz der Mathematik an. Welcher sich Oborin nämlich bediente, indem er sowohl in seinem Schreibheft als auch auf einem kleinen Laptop, der stets zu seiner rechten Seite plaziert war, ein kompliziertes Formelwerk zur Anwendung brachte, an dessen Schluß enorm lange Zahlenreihen standen, die er in der Folge über die zehn Fingerlöcher in das Telephongerät eingab. – Dies war nun die eigentliche Überraschung, nämlich die Länge der Telephonnummern, die Oborin wählte. Es konnte geschehen, daß er stundenlang damit beschäftigt war, die Wählscheibe zu bedienen. Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand waren darum mit einem Pflaster geschützt, und auch das Handgelenk hatte er einbandagiert.
    Nicht, daß Ivo in der Lage gewesen wäre, einen möglichen Irrsinn Oborins von einer möglichen Sinnhaftigkeit seiner Handlungen zu unterscheiden. Ivo konnte in keiner Weise beurteilen, was Oborin da zusammenrechnete, inwieweit diese mathematischen Konstruktionen einen harten Kern besaßen oder eher die Weichheit von Oborins Birne bestätigten. Klar war allein die Besessenheit, mit der Oborin vorging.
    Doch im Grund paßte es eigentlich ganz gut zusammen: die extreme Länge der Rufnummern und der Versuch, mit anderen Sphären verbunden zu werden. Eine Lichtjahre entfernte Galaxis mit einer … sagen wir mal, mit einer kostenlosen 0800er-Nummer zu erreichen, das wäre doch recht unglaubwürdig. Und daß das Reich der Toten gleich um die nächste Ecke lag, ohne Vorwahl anwählbar, erschien ebenfalls unrealistisch. Nein, diese mit viel mathematischer Mühe erarbeiteten Megareihen verwiesen auf die beträchtliche Distanz, die hier überbrückt werden mußte. Auch geschah es, daß Oborin am Ende der Nummerneingabe in die Hörer hineinsprach, russisch redend, manchmal auch englisch, manchmal einen Gesang verwendend, der Tierstimmen imitierte. Meistens schien es, als hätte er eine falsche Nummer gewählt oder als würde sich der angerufene Teilnehmer einem Gespräch verweigern. Doch hin und wieder konnte man den Eindruck gewinnen, Oborin würde sich tatsächlich mit einer Person unterhalten, wenigstens einer eingebildeten Person.
    Â»Sie reden nicht wirklich mit denen, oder?« fragte Ivo einmal und setzte ein mitleidiges Grinsen zwischen sich und sein Gegenüber.
    Oborin antwortete: »Ach! Aber mit Ihnen, mit Ihnen, meinen Sie, ich rede.«
    Das war es auch schon. Mehr Kommentar gab Oborin dazu nicht ab. Ließ aber weiterhin zu, daß Ivo, wann immer er wollte, das Labor betreten durfte, um es sich in einem der alten Fauteuils, die wie hingeworfene Spielwürfel zwischen den Anlagen standen, bequem zu machen. Wobei Ivo stets – ähnlich wie auch bei Galina – Abstand hielt. So viel Respekt besaß er. Nur einmal, am Ende dieses langen Winters, kam er nahe genug zu

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