Die Hand die damals meine hielt - Roman
einem hastigen Flattern.
An der Kreuzung bleibt sie abrupt stehen. Die Straße, der Bürgersteig, die Laternenmasten schlingern und schaukeln. Sie kann keinen Schritt weitergehen. Als wäre sie mit einer Kette an das Haus oder an etwas, das sich darin befindet, gefesselt. Elina dreht den Kopf, erst in die eine, dann in die andere Richtung. Ein interessantes Gefühl. Sehr sonderbar. Sie kommt sich vor wie ein Schleppkahn am Ende seines Taus, hin und her gerissen. Der Regen saugt sich durch ihr Sweatshirt, der Schlafanzug klebt ihr auf der Haut.
Elina dreht sich um. Auf einmal ist sie nicht mehr zwei Frauen, sondern nur noch eine. Diese Elina geht den Bürgersteig zurück, durch den Vorgarten, ins Haus. Sie hinterlässt nasse Fußabdrücke auf den Dielenbrettern.
Der Kleine kämpft in seinem Bett mit der Decke, die Fäustchen in die Wolle geklammert, das Gesichtchen verzerrt vor Anstrengung und Entbehrung. Als er Elina entdeckt, vergisst er seinen Kampf mit der Decke, seinen Hunger, sein Verlangen nach etwas, was er nicht ausdrücken kann. Seine Finger entfalten sich wie Blütenblätter, und er starrt seine Mutter mit großen Augen an.
»Ist ja schon gut«, sagt Elina zu ihm. Und diesmal glaubt sie es selbst. Als sie ihn aus dem Bett hebt, bebt er vor Überraschung, durch die Luft befördert zu werden. Sie drückt ihn an sich. »Ist ja schon gut.«
Elina und der Kleine gehen zusammen ans Fenster. Sie können ihre Augen nicht voneinander losreißen. Er blinzelt ein wenig in dem hellen Licht, aber er blickt zu ihr hoch, als ob ihr Anblick für ihn so lebenswichtig ist wie das Wasser für eine Pflanze. Elina lehnt sich an die Glastür, die zum Garten führt. Sie hebt den Kleinen hoch und legt seine Stirn an ihre Wange, als ob sie ihn salbt oder begrüßt, als ob sie und er noch einmal ganz von vorn beginnen.
H ier haben wir Lexie, die am Marble Arch auf dem Bür-L gersteig steht. Sie rückt die Ferse ihres Schuhs zurecht, knotet sich ein Tuch um den Hals. Es ist ein warmer Abend, kurz nach sechs. Männer in Anzügen und Frauen mit Hüten und Stöckelschuhen, die Kinder hinter sich her ziehen, umströmen sie wie ein Fluss einen Felsblock.
Vor zwei Tagen hat sie ihre neue Stelle angetreten, als Fahrstuhlführerin in einem großen Warenhaus. Das Arbeitsamt hat sie dorthin vermittelt, nachdem sie beim Maschineschreiben erbärmlich abgeschnitten hat. Seit zwei Tagen sagt sie nun schon: »Welche Etage, Madam?« und »Aufwärts, Sir.« Und »Dritter Stock, Haushaltswaren, Kurz- und Modewaren, bitte sehr.« Sie hätte nie gedacht, dass es etwas so Langweiliges geben könnte. Oder dass sie es schaffen würde, den gesamten Abteilungsplan eines siebenstöckigen Kaufhauses im Kopf zu behalten. Oder dass es Menschen gibt, die so viele Sachen kaufen - Hüte, Gürtel, Schuhe, Strümpfe, Gesichtspuder, Haarnetze, Kostüme. Über die Schultern ihrer Passagiere hinweg hat Lexie die Listen in ihren behandschuhten Händen gesehen. Aber sie weiß: Das hier ist nur der Anfang. Sie ist angekommen, sie ist in London. Jeden Augenblick wird der Farbenmeer-Abschnitt ihres Lebens beginnen, davon ist sie überzeugt, das steht für sie fest - es kann nicht anders sein.
Die junge Frau, die da auf dem Bürgersteig steht, sieht anders aus als die Lexie in Innes’ Schlafzimmer, die nackte Lexie im bunt gestreiften Hemd. Anders auch als die Alexandra mit dem blauen Kleid und dem gelben Tuch, die bei ihren Eltern im Garten auf einem Baumstumpf saß. Sie wird in ihrem Leben noch viele Inkarnationen durchmachen. Sie besteht aus unzähligen Lexies und Alexandras, ineinander verschachtelt wie russische Puppen.
Sie hat ihre Haare hochgesteckt. Sie trägt die rot-graue Livree des Warenhauses, samt dazugehörigem roten Halstuch. Die Mütze mit der Kordel hat sie in ihre Tasche gestopft. Ihre Jacke, zu der auch ein Gürtel gehört, ist für diesen schwülen Nachmittag eine Spur zu warm. Lexie steht mit hochgezogenen, verspannten Schultern da. Man kann nicht den ganzen Tag stur höflich sein, ohne dass es Spuren hinterlässt. Sie bindet das scharlachrote Halstuch los, reißt es herunter und stopft es in die andere Tasche. Reibt sich die Schultern, um sie zu lockern. Lächelt zwei anderen Fahrstuhlführerinnen zu, die aus der Tür kommen und auf dem überfüllten Bürgersteig Arm in Arm und in ihren hohen Lackschuhen leicht kippelnd davongehen.
Sie atmet ein. Sie atmet aus. Ihre Schultern senken sich ein wenig. Sie sieht zu dem hellen Himmelsstreifen auf
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