Die Hand die damals meine hielt - Roman
er.
Lexie nestelte weiter an den Fransen. »Kommt das oft vor, dass du junge Frauen einlädst, zu dir zu ziehen?«, fragte sie, ohne ihn anzusehen. Die anderen Frauen waren ihr egal, aber sie wollte lieber vorher wissen, wie sie sich in sein Leben hineinfügte.
»Nie«, versicherte er ihr. »Das habe ich noch nie jemanden gefragt. Ich hatte noch nie eine Frau in meiner Wohnung, noch nicht einmal für eine Nacht. Ich hab nicht gern« - er fuhr mit der Hand durch die Luft - »irgendwelche Leute
um mich.« Der letzte Satz stand ein paar Sekunden lang unkommentiert im Raum, dann sprang Innes ohne Vorwarnung vom Sofa auf. »Gehen wir«, sagte er und fing an, sich anzuziehen.
»Wohin?«, fragte sie verwirrt. Sie musste sich erst noch an seine abrupten Kurswechsel gewöhnen.
»Deine Sachen holen.« Er gab ihr die Hand und zog sie hoch.
»Was für Sachen?«
»Aus deinem Zimmer.« Obwohl sie noch splitternackt war, reichte er ihr ihre Jacke. »Du hast lange genug in diesem Tempel der Jungfräulichkeit gelebt. Von jetzt an wohnst du bei mir.«
Innes’ Wohnung ist keine Wohnung mehr. Heute, fünfzig Jahre später, ist sie auf den ersten Blick kaum wiederzuerkennen. Aber die Türrahmen sind noch dieselben, genau wie die Fensterverriegelungen, die Lichtschalter und die Stuckleisten an der Decke. Unter der abscheulichen violetten Wandfarbe kann man mit ein bisschen gutem Willen noch die Struktur der Tapete ausmachen. Das Brett auf dem Treppenabsatz, über das früher jeder gestolpert ist, ist immer noch locker, aber jetzt liegt ein beigefarbener Teppichboden darüber, und keiner der Bewohner ahnt, dass in dem Hohlraum darunter noch immer ein Ersatzschlüssel für die elsewhere -Redaktion versteckt ist. Der frühviktorianische Eisenkamin mit dem Muster aus Ranken und Blättern hat die verschiedenen Renovierungen und Reinkarnationen des Zimmers heil überstanden. Auf der linken Seite hat er eine Brandstelle, wo Lexie im Sommer 1959 ein Missgeschick mit einer Kerze passiert ist, als sie keine Münzen
für den Gaszähler mehr im Haus hatten. Der Fleck neben der Tür, unter dem Teppich, ist im selben Jahr während einer Party entstanden. Beide, Innes und Lexie, sind in diesen Räumen noch sehr gegenwärtig. Es ist, als könnte man die Zeit zurückdrehen und, wenn man sich genau im richtigen Moment umwendet, einen Blick auf Innes erhaschen. Wie er mit einem Buch auf dem Schoß in einem Sessel sitzt, die Beine übereinandergeschlagen, von Zigarettenrauch umwabert. Oder wie er am Fenster steht und auf die Straße hinuntersieht. Wie er am Schreibtisch sitzt und fluchend ein neues Farbband in die Maschine einlegt.
Aber er ist nicht mehr. Genau wie Lexie. Momentan bewohnt eine junge Frau aus Tschechien diese Zimmer. Sie hört blecherne Electronica-Musik auf ihrer Anlage und schreibt mit blauem Kugelschreiber Briefe auf kariertes Papier. Sie arbeitet als Aupair bei der Familie, der das Haus inzwischen gehört. Nach der Rückumwandlung ist die Wohnung heute das ausgebaute Dachgeschoss einer Stadtvilla. Innes hätte seine Freude an dieser Entwicklung. Er war immer überzeugt, dass es sich um ein ehemaliges Dienstbotenquartier handelte.
Bei allen Veränderungen ist die Wohnung dieselbe geblieben. Sie hat Heizkörper, einen Teppichboden und Jalousien bekommen. Die tapezierten Wände sind überstrichen. Die winzige Küche mit dem Gasherd, dem launischen Wasserboiler und der Zinkbadewanne gibt es nicht mehr. Man hat die Wand herausgebrochen, um den Treppenabsatz zu vergrößern. Aus dem Zimmerchen, das nach hinten hinausgeht, in dem sie gegessen haben und Innes gearbeitet hat, ist ein Badezimmer mit einer riesigen Eckwanne geworden. Ihre Eingangstür mit dem rostigen Schloss, die sie von den übrigen Wohnungen trennte, ist verschwunden, und die
Kinder der Familie laufen ungehindert treppauf und treppab. Manchmal sitzt das Aupair an der Stelle, wo Innes’ Fußmatte lag, und telefoniert unter Tränen mit ihrem Freund in Tschechien.
Lexie zog nicht gleich am selben Abend bei Innes ein. Innes meinte zwar, seinen Kopf wie immer durchsetzen zu müssen, doch Lexie stellte sich bockig. Was Sturheit anging, passten die beiden bestens zueinander. Er fuhr Lexie zurück in die Pension. Unterwegs hatten sie einen heftigen Streit, weil sie sich weigerte, ihre Sachen zu packen. Sie stritten sich bis zur Treppe, bis Lexie wütend durch die Haustür stürmte. Am nächsten Tag wartete er mit seinem MG wieder vor dem Kaufhaus. Nach einer weiteren Partie
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