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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
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Illustrierten und die Zeitung daneben. Sie konnte nur einen klaren Gedanken fassen: Sie durfte jetzt nicht aus der Rolle fallen, musste höflich bleiben. Auf dem Tisch waren ein Glasfläschen, eine Zange und ein Deckel, der nicht auf das Fläschchen zu passen schien.
    »Wo ist er?«, hörte sie sich sagen.
    Als hinter ihr alles stumm blieb, drehte sie sich um. Beide Schwestern machten ein verlegenes Gesicht. »Seine Frau …«, begann die eine.
    Lexie wartete.
    »Seine Frau war da«, sagte die andere, die Lexies Blick noch immer mied. »Sie hat alles Nötige veranlasst.«
    »Alles Nötige?«, wiederholte sie.
    »Wie mit dem Leichnam verfahren werden soll.«
    Lexie stand das Bild deutlich vor Augen. Wie Gloria auf die Station marschiert kam. Oder hatte man ihn inzwischen verlegt? Ja, das war in Krankenhäusern so üblich, dass man das Bett so schnell wie möglich für den nächsten Patienten herrichtete. Das hieß also, man hatte Innes in die Leichenhalle gebracht oder in ein anderes Zimmer. Sie sah Gloria in der Leichenhalle vor sich, die in ihrer Vorstellung in einem Keller untergebracht war. Stöckelnde Absätze, die Haare zur Turmfrisur hochbetoniert, die Hände mit Handschuhen gepanzert, das bleiche Kind im Schlepptau. Wie sie mit ihren gletscherkalten Augen den Leichnam inspizierte - ihren Leichnam, Lexies Leichnam, den Leichnam ihres Geliebten, ihres Schatzes. Wie sie sich dabei, vor allem aus Effekthascherei, ein Taschentuch an die Lippen presste. Ob sie wohl einen Hut mit Schleier getragen hatte? Höchstwahrscheinlich. Ob sie den Schleier angehoben hatte, um einen letzten Blick auf ihren Ehemann zu werfen? Höchstwahrscheinlich nicht. Ob sie ihn berührt, gestreichelt hatte? Lexie
bezweifelte es stark. Wie lange war sie bei ihm geblieben? Hatte sie etwas zu ihm gesagt? Sie oder das Kind? Lexie sah sie wieder hinausgehen, sah, wie sie darum bat, das Telefon benutzen zu dürfen, um alles Nötige zu veranlassen.
    »Darf ich ihn sehen?«, fragte Lexie die Schwestern. Während sie schnell ihre Sachen zusammensuchte, um gleich mitgehen zu können, drang ihr das Schweigen der Frauen ins Bewusstsein. Lexie lauschte ihm nach. Sie tastete es ab, prüfte seine Länge, seine Tiefe. Sie hätte die Zunge herausstrecken und es schmecken können. »Ich möchte ihn sehen«, sagte sie, für den Fall, dass die Schwestern nicht verstanden, sie nicht gehört hatten, dass sie sich nicht klar genug ausgedrückt hatte. Sie sagte sogar: »Bitte.«
    Die Dragonerschwester machte eine Bewegung mit dem Kopf, eine Mischform aus Nicken und Kopfschütteln. Dabei schien irgendetwas in ihr zu zerreißen, denn plötzlich war ihre Stimme freundlich. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Nur Familienangehörige.«
    Lexie schluckte. Zweimal. »Bitte«, flüsterte sie. »Bitte.«
    Diesmal war das Kopfschütteln eindeutig. »Es tut mir leid.«
    Da entfuhr ihr ein Laut, ein Schrei, ein Ruf oder ein Schluchzen. Lexie schlug sich die Hand vor den Mund, um den Laut zu ersticken. Sie durfte sich nicht gehen lassen, denn es gab Dinge, die sie wissen musste, und wenn sie weinte und schrie, würde sie die Antworten nie erfahren. Irgendwie war ihr klar, dass sie nur diese eine Chance hatte. Als sie den Laut sicher in sich eingekapselt hatte, sprach sie weiter. »Können Sie mir eine Frage beantworten? Nur eine einzige Frage. Ist er noch hier oder hat sie ihn mitgenommen?«
    Die Schwester warf einen schnellen Blick auf ihre Kollegin. »Das kann ich nicht sagen«, sagte sie.

    Lexie beugte sich zu ihr, als ob sie eine Lüge am Geruch erkennen könnte. »Sie können es nicht sagen, oder Sie wissen es nicht?«
    Die andere Schwester machte eine kleine Bewegung auf Lexie zu. »Soweit ich weiß …« Sie hielt inne. Der Dragoner runzelte die Stirn. Ihre Kollegin zuckte mit den Schultern, sah Lexie an, holte tief Luft und sagte: »Soweit ich weiß, wurde Mr. Kents Leichnam bereits abgeholt. Um die Mittagszeit herum.«
    Lexie nickte. »Danke. Vermutlich wissen Sie nicht, wohin man ihn gebracht hat?«
    »Das weiß ich nicht.«
    Und Lexie glaubte ihr. Hier gab es nichts mehr für sie zu tun. Sie nahm die Veilchen vom Tisch und legte sie sich in die Hand, in der sie noch immer Innes’ Schal hielt. Als ihr Blick darauf fiel, kam er ihr vor wie ein Artefakt aus einer anderen Zeit. Unmöglich, dass sie ihn vor gerade einmal einer Stunde für ihn aus dem Schrank genommen haben sollte, unmöglich, dass sie vor gerade einmal einer Stunde nicht gewusst hatte, dass er gestorben

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