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Die Hand von drüben

Die Hand von drüben

Titel: Die Hand von drüben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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einzuschätzen und ihnen das Richtige zu verordnen. Er konnte den Dummköpfen etwas auftischen, aber er besaß nicht die Intelligenz, um das Gehirn eines Samuel Haie Constable zu steuern.
    Und auch seine Frau Sarah besaß sie nicht. Hero erschrak, als sie das Zimmer betrat. Nicht, weil sie ganz anders war, als er erwartet hatte, und so gar nicht dem Bild entsprach, das er sich von ihr gemacht hatte, sondern weil das, was er sich ausgemalt hatte, mit der Wirklichkeit völlig übereinstimmte. Seine Phantasiegestalt war natürlich ein Kompositum aus vielen anderen Medien, die er in London und auf dem Kontinent gekannt und entlarvt hatte: dicke, vulgäre, raffinierte Frauen niedriger Herkunft. Sie waren fast alle eines Schlages.
    Sie war mittelgroß, aber kräftig gebaut, hatte riesige keulenförmige Arme, die, wie Hero wußte, bei Frauen erstaunlich stark sein konnten, und er blickte auf ihre Handgelenke, Hände und Finger, um zu sehen, ob er Muskeln entdecken könne, die dort sein müßten. Sie waren es: kleine Klumpen zwischen Daumen und Zeigefinger. Ihre Züge waren grob, ihr Kopf breit, ihre Lippen fleischig. Sie hatte eine starke Römernase, und hinter ihrer goldgerandeten Brille sah man dunkle, schamlose Augen. Ihr Haar war stahlgrau, üppig und hochgekämmt in der Mode von 1900, als die Frauen scheußliche Rollen unter dem Haar trugen, um es zu bauschen. Die meisten Medien, die er gekannt hatte, hatten diese Art von Frisur getragen. Sie war natürlich äußerst nützlich für das Verstecken kleiner Gegenstände.
    Sie war sogar so angezogen, wie er es erwartet hatte: sie trug ein schwarzes Seidenkleid über einem altmodischen Fischbeinkorsett, aus dem ihr Fleisch herausquoll. Sie strömte einen Geruch von Schimmel und Kampferkugeln aus, und sie hatte eine große Menge von den Zwiebeln gegessen, die unten gebraten worden waren.
    Woodmanston ging auf sie zu, als sei sie die Pythia persönlich, nervös, errötend und verlegen, und stellte Peter Fairweather als neuen Gast vor.
    Sie musterte Hero einen Augenblick unverfroren von Kopf bis Fuß und sagte: «Freue mich, Sie kennenzulernen. Ich sehe rings um Sie lauter Geister, junger Mann. Mir ist, als hätte ich heute abend die Kraft.»
    Sie war ungebildet und wahrscheinlich eine halbe Analphabetin. Keine Spur von Scharfsinn und Gerissenheit. Sie ging zu den anderen und sagte: «Es müßte eine gute Séance werden. Ich spüre die Kraft.» Dann fragte Sie: «Sind alle da?»
    Ihr Mann antwortete: «Nein, noch nicht. Wir warten noch auf unseren teuren Freund, Professor Constable.»
    Es klingelte an der Haustür. Alle im Raum verstummten. Sie hörten den Diener zur Tür schlurfen und sie öffnen. Kurz darauf betrat Professor Constable den Salon.
    Und eins macht dreizehn, dachte Hero. Wie gut, daß ich nicht abergläubisch bin! Das ist also Professor Constable.
    Es ist immer ein leichter Schock, wenn jemand, den man bis dahin nur auf einem Foto gesehen hat, plötzlich lebendig wird. Hero erlebte das jetzt beim Anblick des Löwenkopfes mit dem buschigen grauen Haar, das einmal rot gewesen war, den äußerst intelligenten Augen und dem energischen Kinn.
    Constable trug einen ausgebeutelten unauffälligen Anzug und eine ebenso unauffällige Krawatte, die, als wäre es in großer Hast geschehen oder als hätte es jemand getan, dem Kleidung gleichgültig war, schlecht geknotet war und schief saß. Er war jetzt hier in dem gleichen Raum mit ihnen, dieser große Mann, die Figur, die der Grund für all die Aufregung und Sorge, die Geheimnistuerei und das Ränkeschmieden war. Hinter der dichten geschwungenen Braue trug er das Wissen, auf dem die Sicherheit fast der Hälfte der Menschen in der Welt beruhte.
    Und dennoch, gleichzeitig war er nicht hier. Seine Augen schienen keinen von ihnen wahrzunehmen, als ob all seine Gedanken und seine ganze Konzentration nach innen gekehrt wären. Niemand richtete das Wort an ihn, und er sprach mit niemandem. Er verschwand, als verschmölze er mit den anderen, die sich jetzt alle zum anderen Ende des Salons umdrehten, wo Vorhänge zurückgezogen wurden und man eine Schiebetür sah, die geöffnet wurde, damit sie den Raum hinter dem Salon, der nach hinten hinaus lag, betreten konnten. Er war größer, und offenbar sollte die Séance dort stattfinden.
    Hero folgte den anderen durch die Schiebetür, blieb aber ein wenig zurück, um die Einrichtung genauer betrachten und sich einprägen zu können.
    Sie war ihm nicht unvertraut. Am entgegengesetzten

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