Die Hand
Lebens immer wieder bestätigten Grundsatz: Unterschätze nie deine Mitmenschen.
In diesem speziellen Fall unterschätzte Jerry Hoskins sträflich den von ihm in Gedanken häufig als weltfremden Spinner geschmähten Mister Horaz Prendergast, der im Haus der Hoffnung die Werkstätten leitete.
Horaz Prendergast waren Gedankengänge und Charakterzüge chronischer Knastbrüder keineswegs fremd. Schließlich war er selbst zu einer Zeit, als er dem Gesetz nicht sonderlich zugetan war, einer der gefragtesten Safeknacker in der Londoner Unterwelt, was außer Miß Mills hier niemand wußte. Und beide bewahrten Stillschweigen über Horaz Prendergasts dunkle Punkte in seiner Vergangenheit.
Im Gegensatz zu Miß Mills brachte Horaz Prendergast den jeweiligen Gästen im Haus der Hoffnung nicht von Anfang an uneingeschränktes Vertrauen entgegen. Seiner Meinung nach sollten die ihren Sinneswandel durch entsprechendes Verhalten erst beweisen. Horaz Prendergast verließ sich dabei ausschließlich auf seine Menschenkenntnis. Auch bei Gordon Falls hatte er damals Übles geahnt und Miß Mills mehrfach seine Bedenken mitgeteilt, allerdings vergeblich. Und bei diesem Jerry Hoskins überkam Horaz Prendergast häufig ein ähnlich unangenehmes Gefühl. Dieser Mensch gefiel ihm immer weniger.
Horaz Prendergast war sehr wohl aufgefallen, daß Hoskins in letzter Zeit mehrfach Ausflüge unternahm — was er in seiner Freizeit natürlich durfte — , über die er nie ein Wort verlor. Jedesmal, wenn Horaz ihn darauf ansprach, was er denn so treiben würde, wenn er unterwegs war, gab sich Jerry Hoskins merkwürdig schweigsam. Zweimal war er abends schon zu spät zurückgekommen, und Horaz hatte ihn dabei beobachtet, wie er sich wie ein Dieb ins Haus zurückschlich. Jedenfalls drückte für Horaz die ganze Gestalt Hoskins’ das personifizierte schlechte Gewissen aus. Und immer nach solchen Ausflügen war Jerry Hoskins am nächsten Tag aufreizend aufmüpfig, während er sich sonst geradezu duckmäuserisch, ja unterwürfig verhielt, beides Wesenszüge, die Horaz Prendergast aus tiefstem Herzen verabscheute. So nahm er sich vor, Mister Hoskins genau auf die Finger zu schauen. Erstens, weil er seine Arbeit hier ehrlich liebte, die er sich nicht durch dunkle Machenschaften eines unverbesserlichen schwarzen Schafes vom Schlage eines Jerry Hoskins verderben lassen wollte.
Sein Hauptgrund jedoch war, daß er Miß Mills einen neuerlichen Skandal mit einem großen Polizeiaufgebot auf der Farm wie damals bei Gordon Falls um jeden Preis ersparen wollte. Denn Horaz verehrte Sarah Mills aus tiefstem Herzen und gedachte, es ihr einmal auch zu sagen. Bisher hatte ihm dazu nur immer im entscheidenden Moment der Mut gefehlt. Er hatte jedesmal, wenn er Miß Mills in die sanften braunen Augen blickte, Angst, daß sie ihn auslachen würde. Ja, in manchen Dingen war Horaz Prendergast eben genauso empfindsam wie Sarah Mills. Was Jerry Hoskins betraf, teilte er ihre Arglosigkeit ganz und gar nicht. Sollten sich seine Ahnungen bestätigen, würde Horaz Prendergast nicht davor zurückschrecken, seinen früheren Widersacher Scott Skiffer von Scotland Yard anzurufen und ihn zu bitten, die Angelegenheit diskret zu erledigen, ohne Miß Mills neuen Schmerz zufügen zu müssen. Aber noch war es nicht soweit. Horaz Prendergast war anständig genug, hier nichts ohne Beweis zu unternehmen.
Beweise, die fehlten auch noch den vier Männern, die in dieser Nacht um kurz nach 23 Uhr im Büro von Chiefinspector Ellis bei Scotland Yard Überstunden machten. Müdigkeit zeichnete ihre Gesichter, mehr aber noch Enttäuschung. Ja, Inspektor Scott Skiffer, Inspektor Ridley, Chief Ellis und Sergeant Robson waren ziemlich enttäuscht.
Das Büro hing voller dicker Rauchschwaden, ein übervoller Aschenbecher und halbvolle Kaffeetassen zierten die Schreibtischplatte von Andrew Ellis. Dazwischen lag die Zeichnung, die Jim Robson nach den Angaben Ron Dullingers in Watford angefertigt hatte. Danach war Robson noch am selben Abend nach London zurückgefahren, statt wie ursprünglich geplant erst am nächsten Tag. Seit seiner Ankunft im Yard waren dreieinhalb Stunden vergangen. Während dieser Zeit hatten sechs Beamte der Sonderabteilung gegen organisierten Menschenschmuggel unter den Gesichtern in der Verbrecherkartei nach dem Mann auf der Zeichnung gesucht. Ohne Erfolg. Neun Fotos waren zwar ähnlich, aber sieben der dazugehörigen Gauner saßen nachweislich im Gefängnis, und die anderen
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