Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
bereiten, gehört zum üblichen Repertoire der Pathologie eines Serienmörders, aber ich habe noch nie erlebt, dass es aus solcher Entfernung und auf derart kühle, methodische Weise gemacht wurde. Normalerweise beruht die Qualkomponente auf der Zufügung körperlicher Schmerzen, um das Opfer zu terrorisieren und dem Mörder das gewünschte Gefühl unendlicher Macht zu geben. In diesem Fall war die Zufügung von Qualen aber rein intellektuell.«
Rodriguez beugte sich zu ihr. »Das heißt also, dass es nicht ins Serienmördermuster passt?« Er klang wie ein Anwalt, der eine gegnerische Zeugin in die Mangel nimmt.
»Nein, das nicht. Das Muster ist definitiv erkennbar. Ich sage nur, dass er es auf eine besonders kühle und berechnende Weise ausführt. Die meisten Serienmörder sind überdurchschnittlich intelligent. Manche wie Ted Bundy
liegen sogar weit über dem Durchschnitt. Bei diesem Täter könnte es noch mal eine Steigerung geben.«
»Zu schlau für uns - wollen Sie darauf hinaus?«
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte die Psychologin mit Unschuldsmiene, »aber wahrscheinlich haben Sie Recht.«
»Ach ja? Könnten Sie das noch mal wiederholen?« Rodriguez’ Stimme war brüchig wie dünnes Eis. »Nach Ihrer fachlichen Meinung ist das BCI unfähig, diesen Irren zu fassen?«
»Auch das habe ich nicht gesagt.« Holdenfield lächelte. »Aber auch da haben Sie wahrscheinlich Recht.«
Wieder schoss Rodriguez die Zornesröte ins Gesicht, doch Kline ging dazwischen. »Becca, damit wollen Sie doch sicher nicht andeuten, dass wir nichts tun können.«
Sie seufzte mit der Resignation einer Lehrerin, der man die dümmsten Schüler aufgehalst hat. »Bisher lassen sich aus den Fakten des Falls drei Schlussfolgerungen ziehen. Erstens spielt der Mann, den Sie jagen, Spielchen mit Ihnen, und zwar sehr gekonnt. Zweitens ist er äußerst motiviert, gut vorbereitet, konzentriert und gründlich. Drittens weiß er, wer als Nächster auf seiner Liste steht, und Sie nicht.«
Kline legte die Stirn in Falten. »Aber zurück zu meiner Frage …«
»Wenn Sie nach Licht am Ende des Tunnels suchen, dann spricht nur eine winzige Möglichkeit für Sie. So streng organisiert er auch ist, es besteht die Chance, dass er auseinanderbricht.«
»Wie? Warum? Was soll das heißen ›auseinanderbricht‹?«
Unmittelbar nach Klines Frage spürte Gurney, wie es ihm die Brust zusammenschnürte. Das beängstigende Beklemmungsgefühl
wurde von einem gestochen scharfen Fantasiebild begleitet: das Blatt mit den acht Zeilen, das er am Vortag spontan in die Post gegeben hatte, in der Hand des Mörders.
Jetzt weiß ich, wie es gewesen sein muss:
Verkehrt der Schritt, gedämpft der Schuss.
Dein kleines Spiel wird bald schon enden,
Der Freund eines Toten sich gegen dich wenden.
Hör, was ich sage, und präg es dir ein:
Nirgends wirst du mehr sicher sein.
Zähl deine Stunden, zähl die Minuten -
Bald wird dir selbst die Kehle bluten.
Sorgfältig und sichtlich verächtlich knüllte die Hand das Papier zu einer immer kleineren Kugel zusammen, und als dieser nur noch die Größe eines ausgespuckten Kaugummis hatte, öffnete sich die Hand langsam und ließ es fallen. Gurney versuchte, das verstörende Bild zu verscheuchen, doch die Szene hatte sich noch nicht erschöpft. Jetzt lag in der Hand des Mörders der Umschlag, in dem das Gedicht abgesandt worden war. Deutlich zu erkennen waren die Adresse und der Poststempel - der Poststempel von Walnut Crossing.
O Gott! Eisige Kälte breitete sich von Gurneys Magengrube bis hinunter in seine Beine aus. Wie hatte er dieses wesentliche Problem übersehen können? Beruhig dich, denk nach. Was konnte der Mörder mit dieser Information anfangen? Konnte sie ihn zu ihrer Adresse, zu ihrem Haus, zu Madeleine führen? Gurney spürte, wie sein Blick starr wurde und ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Weshalb war er nur so davon besessen gewesen, dieses jämmerliche
Geschreibsel abzuschicken? Und warum war ihm das mit dem Poststempel nicht vorher eingefallen? Was für Gefahren hatte er damit für Madeleine heraufbeschworen? Die letzte Frage hetzte in seinem Bewusstsein hin und her wie ein Mann, der einen Ausweg aus einem brennenden Haus sucht. Wie real war die Gefahr? Wie nah? Sollte er sie anrufen, sie warnen? Warnen wovor? Und ihr dabei eine Todesangst einjagen? Was hatte er noch übersehen mit seinem Tunnelblick auf den Gegner, die Schlacht, das Rätsel? Wessen Sicherheit - wessen Leben - hatte er noch riskiert
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