Die Hebamme
gemacht. Nachdem er sie hatte verhören müssen und sie sich in unsäglicher Selbstanklage bezichtigte, lag ihm daran, in ihrer Nähe zu sein, dezent, aber doch so, dass sie ihn wahrnahm.
Gerade weil Homberg, so vermutete Collmann, auf der Hochzeit des Apothekers getanzt hatte, verlangte dieser eine schonungslose Aufklärung über die Ursachen der anzunehmenden Selbsttötung mittels giftiger Substanzen. Zu diesem Zweck zog der Richter und Bürgermeister auch eine forensische Sektion in Betracht, von der er nur abzusehen bereit war, sofern der Mann nachweislich an einer seelischen Erkrankung gelitten hatte, die sich Melancholie nannte.
Collmann also hatte den schönen Toten in Augenschein genommen und den maßlosen Schmerz seiner Mutter. Caroline Fessler war kaum fortzubringen von ihm, den sie immer wieder ihr einziges Kind nannte. Dann war sie verstummt. Collmann traf auf eine versteinerte Frau, die es nicht mehr fertig brachte, auch nur einen Ton zu sagen oder eine Träne freizugeben. Professor Kilian, auf ihren Wunsch bei der Befragung zugegen, war derjenige gewesen, der für sie Auskunft über den Sohn gab, den er vor allem aus ihren Erzählungen als einen empfindsamen, träumerischen Menschen kannte. Der Gelehrte hatte seine Worte mit Bedacht gewählt, und beide, Collmann und Kilian, beobachteten Carolines blasses Gesicht, während von schwermütigen Affekten die Rede war. Doch nichts regte sich darin. Nur als die Gedichte ihres Sohnes Erwähnung fanden, ballte sie ihre Hand zu einer Faust über dem Herzen. Sie verschwieg etwas.
Jene Gedichte, die Lambert Fessler verfasst haben sollte, waren unauffindbar. Nur Therese besaß noch einen Brief, den sie während ihrer Verlobungszeit auf indirektem Wege erhalten hatte, wie sie Collmann wissen ließ. Er musste sie bei ihren erschrockenen Eltern aufsuchen, zu denen sie zurückgekehrt war – fluchtartig, nachdem ihre Schwiegermutter sie verflucht und beschrien hatte wie eine Fremde. Das Entsetzen ließ Therese immer aufs Neue in Tränen ausbrechen, derweil sie ihm erzählte, wie Caroline auf dem staubigen Boden bei ihrem Sohn kniete – stundenlang – und wie eine Wahnsinnige nach jedem schlug, der sich ihnen nähern wollte.
Während Collmann Lambert Fesslers Brief in Gegenwart der jungen Witwe lesen durfte, fragte er sich, ob er jemals für eine Frau fühlen würde, was diese Zeilen ausdrückten. Er begann damit, als Therese aus seinen Händen ein Tuch entgegennahm. Es schien ihm, dass ihre Augen für einen Moment in seine tauchten.
Homberg hatte sich zufrieden gegeben mit Collmanns Bericht, doch er lehnte es ab, an der Beerdigung eines Selbstmörders teilzunehmen, auch wenn dieser in tiefer Melancholie aus dem Leben gegangen war. Das einzige Zugeständnis des Bürgermeisters war es gewesen, dafür Sorge zu tragen, dass Lambert auf dem alten Friedhof der kleinen Kapelle St. Michael an der Seite seines Vaters begraben werden durfte. Schon für den alten Fessler – dessen Wunsch es gewesen war, bei den Pilgern zu ruhen – hatte man um einen Platz auf dem stillgelegten Friedhof bitten müssen. Bei verdienten Bürgern, oder mitunter in tragischen Fällen, gab man solchen Bitten noch nach.
Auch Professor Kilian konnte gegen die strengen sittlichen Auffassungen seines Freundes nichts ausrichten, obwohl er sich Caroline zuliebe sehr eindringlich verwendete, dass doch der Bürgermeister ihrem Sohn die letzte Ehre erweisen möge. Und so vermutete Kilian, dass die rot geweinten Augen Malvine Hombergs, die sich auf der gegenüberliegenden Seite des Grabes dicht bei Therese hielt, auf eben jene Unnachgiebigkeit zurückzuführen waren.
Tatsächlich war Malvine nicht allein darüber aufgewühlt, in welch demütigender Weise Lambert ihre Freundin als Ehefrau hatte versagen lassen. Sie fand keine Erklärung für seine rätselhafte Rücksichtslosigkeit, keinen Trost für Therese, und sie fürchtete ernsthaft um sie.
»Homberg«, hatte Malvine heute Morgen ihren Mann angefleht, »wenn du Lambert Fesslers Tod so verächtlich betrachtest und beinahe zu einem kriminellen Akt machst, wird alles nur noch schlimmer für Therese.«
»Nicht ich mache ihn zu einem kriminellen Akt, er selbst hat es getan«, war die Antwort ihres Gatten gewesen. »Wie anders willst du es nennen, wenn jemand die Selbstliebe zum Prinzip erhebt? Abgesehen davon, dass er die Pflicht gegen sich selbst und seine Ehefrau verletzt hat …«
»Pflichten und Prinzipien, Homberg, komm einmal zu dir! Du sprichst
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