Die Hebamme
dieser fliehenden Frau vertraut hatte.
Professor Kilian sah wie alle, in deren Mitte er stand, die Gottschalkin stürzen. Ebenso Adrian Büttner, auch wenn dieser sich aus anderem Anlass auf einem anderen Teil des Friedhofs befand. Er war bei Agnes und befreite die Flügel des Engels über ihrem Grab vom Schnee. Im Gegensatz zu Kilian wich Büttner keineswegs der Frage aus, ob er Genugtuung empfand.
Frieder hielt es nicht mehr aus, vor der heiligen Elisabeth zu knien. Er hielt es nicht aus, ihre Sanftheit zu sehen, ihre Güte – die so schön war, schöner als das, was er sonst zu sehen kriegte. Frieder auf seinen Knien wünschte sich, er wäre aus Stein. Vielleicht, wenn er sich ausstreckte zu ihren Füßen, die er nicht sah, so als schwebte sie, als sei sie körperlos unter dem roten Kleid und dem blauen Mantel, wenn er nur dalag, den Bauch und alles auf den Boden gedrückt, fest, dass sich nichts regte in ihm, vielleicht könnte er dann bald aus Stein sein. Wenn die Kälte in seine Gliedmaßen kriechen würde, die zu groß waren für alles, außer für das, was Konrad ihm sagte.
Frieder hatte keine Worte dafür, dass er etwas fühlte, aber es verwirrte ihn, es machte die Dinge schwierig, die er für Konrad tun musste – immer mehr. Es kam wie Schmerz in seine schweren Knochen, in seinen ganzen schweren Körper.
Tränen hatte Frieder nicht, nur sein Summen. Er wusste nicht, wie man weinte und ob er es jemals getan hatte in seinem riesenhaften Dasein. Aber er konnte es hören. Ganz leise. Es wärmte sein Herz, wie das Lächeln von Elisabeth.
Frieder bewegte die Finger, er wackelte mit den Füßen und hob den Kopf. Dann kam er langsam auf die Knie. Hinter den steinernen Säulen, die dicker waren als der dickste Baum, den er jemals in den Sommern umarmt hatte, konnte er stehen, sogar verschwinden. Hinter den Säulen, die so himmelhoch waren, dass er kein Riese mehr war, nur Frieder, der Einzige weit und breit.
»Gottschalkin!«
Gesa rief ein weiteres Mal nach ihr, doch die Frau vor ihr lief weiter, ohne sich umzusehen. Trotzdem hatte sie keinen Zweifel daran, dass es die Hebamme war, die vor ihr ging, seitdem sie die Elisabethkirche passiert und das helle, fast aufgeregte Glockengeläut der gegenüberliegenden Kapelle am Hang sie verwundert hatte.
Zunächst folgte sie ihr nicht, sondern ging nur ihres Weges, der sie zur Universitätsapotheke führen sollte. Sie hatte sie nicht einholen können. Durch den festgetretenen Schnee in den Gassen war der Aufstieg zur Oberstadt mühsam genug.
Manchmal sah sie den roten Saum des Kapuzenmantels unter den Schritten der Hebamme auffliegen. Es kamen ihnen Leute entgegen, kreuzten ihre Wege, drängten sich oder gingen ein Stück auf gleicher Höhe mit, und keiner von ihnen beachtete sie, weder sie, die vor ihr ging, noch Gesa. Und während sie meinte, mit ihr allein unterwegs in der Stadt zu sein, folgte sie ihr unversehens. Nichts reichte ihr plötzlich – weder zu meinen, zu ahnen, noch zu vermuten -, sie wollte nur wissen, dass es diese Frau gab.
Sie blieb hinter ihr, bis sie die Hofstatt erreichten, und zögerte auch nicht, weiter auf das schmale Haus der Hebamme zuzugehen, selbst als diese vor der Tür stehen blieb, ohne sie zu öffnen. Gesas Schritte knirschten im Schnee, und sie ertappte sich dabei, sie zu zählen. Es waren sieben, bis die Gottschalkin sich endlich umdrehte und sie ansah.
»Vielleicht ist es gut, dass du da bist«, sagte sie.
Marthe schloss die Tür hinter dem Mann. Jetzt hatte sie einen Grund, hinaufzugehen in das Zimmer, wo sich die Herrin mit der jungen Person aufhielt, die ihr bekannt vorkam und doch wieder nicht. Wenn es ihr möglich gewesen wäre, hätte sie der Gottschalkin verboten, überhaupt aus dem Haus zu gehen an diesem heutigen furchtbaren Tag. Und als sie endlich zurückgekommen war, als sie aussah, als würde sie umfallen, bleich wie der Talg, aus dem sie die Kerzen zog, hatte Marthe gesagt: »Muss man Sie denn einsperren wie ein Kind?« Sie wusste genau, woher sie kam in diesem Zustand.
Alles hatte sie abgelehnt – die Suppe, warme Wecken, heiße Honigmilch -, jede Hilfe, die sie ihr zukommen lassen wollte. Auf der Treppe – das hatte sie genau gesehen – fasste die Fremde nach ihrem Arm, als sei sie eine Vertraute, dabei hatte die Herrin doch so jemanden gar nicht. Nur sie.
Es hielt Gesa nicht länger auf dem Stuhl, auf dessen vorderster Kante sie gesessen hatte. Das Zimmer gab den kargen Worten, mit denen Elgin sie
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