Die Hebamme
Aus seinem tiefsten Innern, aus nervösen Gegenden, von deren Existenz er bislang nichts wusste, kam eine Stimme, die gehört werden wollte und die mit dem, was sie zu sagen hatte, Schmerz auslöste. Doktor Clemens Heuser kämpfte mit der Erkenntnis, dass es ein Verlangen in ihm gab.
Es störte ihn, es gefährdete seinen schwachen Frieden, den er ohnehin jeden Tag unter ungeheuren Anstrengungen retten musste. Seine Bedenken und Sinnfragen, seine Mutlosigkeit und eine vage Hoffnung lagen im Wettstreit mit seinem besessenen Eifer. All das, was Kilian Melancholie nannte und Clemens als Verzweiflung empfand, baute sich in jedem wachen Augenblick und selbst in seinem dürftigen Schlaf zu einem Chor auf, der nicht zum Schweigen zu bringen war.
Und nun sollte auch noch der Wunsch hinzukommen, eine Frau zu berühren? Was bloß hatte das in ihm ausgelöst? Warum wollte er in ihrer Nähe sein und wich ihr aus, sobald ihre grauen Augen sich auf ihn richteten? Ja, vermutlich war es das, was ihn derartig getroffen haben musste: dass sie nicht auswich. Sie senkte nicht den Blick, sie suchte den seinen auf, befragte ihn, und er hatte sogar schon empfunden, dass sie ihn tröstete, doch das musste eine verwegene Einbildung sein.
Allein der Gedanke, das Haus zu verlassen – zu den Frauen an das Ufer der Lahn zu treten -, ließ ihn verkrampfen. Er sah sich den zum Trocknen ausgelegten Wäschestücken und dem Entenkot ausweichen, stellte sich vor, wie ihr munteres Geplauder abrupt verstummen würde, wie sie sich ihrer losen Aufmachung bewusst wurden ihrem Lehrer gegenüber, der sie mit einer hölzernen Bemerkung über die Schönheit des Tages überforderte. Sie ständen einander gegenüber, er mit dem dringenden Wunsch zu fliehen, diese Banalität ungeschehen zu machen, Lotte Seiler würde sich abwenden, um ein viel sagendes Grinsen zu verbergen – Clemens war sicher, sie hatte ihm längst alles angesehen, sie war schließlich eine verheiratete Frau. Und Gesa, dieses verstörende Wesen, würde sich nicht abwenden und ihn mit ihrem Schweigen beschämen. Ein solches Vorgehen also war in jeder Hinsicht undenkbar.
Plötzlich fühlte er sich wie ein Gefangener dieses Hauses, oder – was fast noch schlimmer war – als sein Hüter. Er bewachte die bleichen Knochen seiner Beckensammlung, die lederne Mutter, die erstarrten Geschöpfe in den Gläsern und die winzigen Schädel. Er bewachte den Tod in einem leeren Gebärhaus.
Seit Wochen hatte keine Schwangere mehr das Institut aufgesucht – Kilian schob es auf den Sommer -, das Semester war beendet, und selbst der Professor schien die Trostlosigkeit zu fliehen, wobei er gleichsam alles daran setzte, diese endgültig zu vertreiben. Kilian war sich nicht zu schade gewesen, dem Landgrafen mit einem weiteren Schreiben womöglich auf die Nerven zu gehen, und wollte heute ein nicht näher benanntes Mitglied des Stadtrates aufsuchen. Jemanden, der seinen Plänen ein gewisses Interesse entgegenbrachte. Die Unterstützung der Bürgerschaft, meinte der Professor, sei etwas, dem sie bislang zu wenig Beachtung geschenkt hatten.
Dem Hausknecht hatte Clemens eigenmächtig freigegeben, der Junge sollte an die Luft mit seiner schlechten Haut. Er war ganz zappelig geworden, wollte seine Familie in Weidenhausen besuchen, fragte, ob er dort die Nacht verbringen dürfte, was er ihm herzlich gern zugestand, und dann war er doch kaum losgekommen, der Bursche. Hatte vor der Küche herumgelungert, in der die alte Textor fuhrwerkte, und Clemens musste Pauli energisch auffordern, dass er sich endlich auf den Weg zu seinen Leuten machte. Der Junge hatte sich mit einigem Widerstreben in Bewegung gesetzt. Vielleicht hatte auch ihn das Haus schon für das Leben außerhalb verdorben.
Von Anna Textor war anzunehmen, dass sie irgendwo in den unteren Stockwerken ihre Besinnung an den Branntwein verlor, und wie immer verschwand der Gedanke daran, woher sie das Zeug wohl bekam, bevor er ihn zu Ende gedacht hatte. Zurzeit konnte sie keine eklatanten Fehler machen, doch das würde sich ändern, und er notierte auf einem Zettel, dass er mit Kilian darüber sprechen musste.
Auf seinem Arbeitstisch erinnerte ihn schließlich ein angefangener Brief, der zwischen einem Wust von Niederschriften auf seine Fertigstellung wartete, daran, dass er sich doch aus absolut freien Stücken hier oben in diesem engen, warmen Dachzimmer aufhielt:
Die Berichte eines reisenden Arztes über das Hospice de la Maternité in Paris hatten ihn
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