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Die Hebamme

Die Hebamme

Titel: Die Hebamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cantz Kerstin
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fallen, um niemanden zu verletzen. Auf ihn nahm man diese Rücksicht nicht. Sie zerrten ihn von der Leiche eines Armenhäuslers fort, die man der Chirurgie zur Verfügung gestellt hatte. Sie haben ihn zu Boden gestoßen, ihn mit Faustschlägen und Tritten traktiert.
    Aus einer Wunde über dem Auge floss noch immer Blut, als man ihn nach Hause brachte. Ich war ein Kind. Ich dachte, er muss sterben. Aber daran starb er nicht. Er unterrichtete schon nach wenigen Tagen wieder. Trotz aller Warnungen bestand er darauf.«
    »Hat er diesen Angriff jemals verwinden können?«
    »Er wollte es, und er gab sich so. Aber ich glaube, er hat es nie verkraftet, dass man ihn nicht verstehen wollte, dass man ihm – seinem Anliegen – misstraut hatte.«
    Sie senkte den Kopf und schwieg. Heuser wartete. Sie versuchte ein Lächeln.
    »Mein Anteil an der Geschichte ist denkbar gering«, sagte sie. »An dem Tag des Angriffs, an dem Nachmittag, als sie ihn in unser Haus brachten, war ich auf meiner Schaukel. Wir wohnten vor den Toren der Stadt, deshalb gab es einen großen Garten, der nach dem Tod meiner Mutter verwilderte. Meine Schaukel war an dem Ast einer alten Eiche befestigt, und ich war an jenem Tag, wie auch an vielen anderen, darauf bedacht, mit den Füßen die unteren Zweige zu erreichen. Stattdessen sah ich meinen Vater. Zwei seiner Studenten halfen ihm aus einer Kutsche. Er hielt seine zerzauste und beschmutzte Perücke in der Hand. Blut tränkte sein Halstuch, sodass es aussah, als hätte man versucht, ihm die Kehle durchzuschneiden. Ich schrie und konnte nicht mehr damit aufhören. Die Schaukel war noch ziemlich weit oben, ich aber wollte sofort bei ihm sein. Da bin ich gesprungen. In der Luft strampelte ich, schlug mit den Armen – so wurde aus dem Sprung ein Sturz, denn ich landete auf der dicken Wurzel eines Baumes, die aus der Erde wuchs. Ich weinte vor Schmerz und doch mehr aus Angst – über das Blut in den Augen meines Vaters, über den tiefen Schrecken, der ihm darin anzusehen war. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, und er saß bei mir in der Wiese, tröstete mich und versuchte, sich seine Sorge nicht anmerken zu lassen. Man trug mich ins Haus. Zwei lange Monate musste ich im Bett bleiben, eng gewickelt wie ein Säugling.«
    »Sie hatten einen Beckenbruch«, konstatierte Clemens Heuser düster.
    »So war es, Herr Doktor. Lange vorbei und verheilt. Mehr gibt es nicht zu sagen über die Natur meines Schmerzes. Er ist manchmal lästig, aber er quält mich nicht. Es besteht also kein Grund zur Besorgnis.«
     
    Er bestand darauf, sie hinauszubegleiten. Das Auditorium, hinter dessen Türen den Geräuschen nach keine leichte Geburt im Gange war, passierten sie zügig. Unten aus der Küche kam ihnen ein Junge entgegen. Er hatte eine sehr entzündete Haut. Unser Hausknecht, sagte Doktor Heuser und fuhr ihm im Vorbeigehen durchs Haar. Elgin fiel ein Rezept des alten Fessler ein.
    Draußen war es hell und warm. Zwei kleine Mädchen trieben eine Schar Gänse vorüber. Oben im Haus wurde ein Fenster geschlossen.
    »Vielleicht begegnen wir uns einmal wieder. Auch wenn es nicht hier sein wird.« Der Arzt räusperte sich, während sie sich verabschiedeten. »Eine führende Rolle wie sie Madame Loisin im Hôtel Dieu innehat, wird man hier niemals …«
    »Der Junge«, sagte Elgin, »Ihr Hausknecht. Er könnte es mit einem Sud aus getrockneten Stiefmütterchen versuchen.«
    Ein leichter Wind fuhr unter ihren Mantel, und am Himmel über der Elisabethkirche trennten sich einige fedrige Wolken voneinander. Es hatte sich keine Gelegenheit ergeben, ein paar freundliche Worte mit der Hebammenschülerin zu wechseln, dachte sie. Das tat ihr jetzt Leid. Sie hatte ihr nachgesehen, als hätte sie eine dringende Bitte. Kilian nannte die Jungfer Langwasser seine tüchtigste Schülerin. Es war nicht anzunehmen, dass sie sich in Schwierigkeiten befand.
    Ganz anders verhielt es sich mit Bettina.

    Das Dienstmädchen der Familie Homberg hatte den Einbruch der Dunkelheit abgewartet, bevor sie sich dem schmalen Haus in der Hofstatt näherte und hastig den Klingelzug betätigte. Marthe und sie kannten sich, und so sah die alte Magd der jungen an, dass sie anders war als sonst. Bettina sagte kaum etwas, aber sie weinte unablässig, es war zum Steinerweichen. Marthe gab ihr in der Küche warmes Bier zu trinken, und dann sprach sie doch.
    Sie war einem Riesen begegnet und noch etwas viel Schlimmerem. Sie musste die Gottschalkin sprechen und sie um Hilfe

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