Die Hebamme
anflehen. Was es zu sagen gab, war vor dem Regen geschehen und Bettina auf dem Rückweg von ihrem Dorf, wo sie die Mutter zu Grabe getragen hatte. Auf einem Fuhrwerk mit Lumpen war sie ein gutes Stück mitgefahren, bis zu einer Abzweigung, die an einem Wald entlang zur Papiermühle führte. Als sie vom Wagen sprang, um weiter Richtung Marburg zu gehen, war sie fast froh gewesen, weil es wegen der Lumpen so schlecht gerochen hatte. Den Geruch würde sie nie vergessen, nie. Sie war noch nicht lange gelaufen, als der Riese aus dem Wald kam, so wie Riesen es tun. Geräuschvoll. Zweige zerknackten im Unterholz und brachen neben seinen Schultern von den Bäumen. Blätter flogen mit seiner Bewegung aus dem Wald heraus auf den staubigen Feldweg.
Sie hatte schon von einem reden hören, man sah ihn manchmal bei der heiligen Elisabeth, doch sie selbst hatte ihn nie gesehen. Bettina hatte nicht geglaubt, dass es Riesen gab, auch wenn die Leute davon erzählten. Er kam auf sie zu mit rudernden Armen, und sein Gesicht zuckte, als sie zu schreien begann. Als sie weglaufen wollte, war hinter ihr der andere, der Schreckliche.
Sie war mit dem Kopf gegen einen Baum geschlagen, sagte Bettina, und nur sehr kurz roch sie den Waldboden. Dann hatte der Schreckliche ihr den Mund zugehalten mit seiner stinkenden Hand, obwohl sie längst nicht mehr schrie.
Er hatte sie einfach liegen lassen, und sie war liegen geblieben, ohne sich zu bewegen, bis seine Schritte, die sich von ihr entfernten, nicht mehr zu hören waren. Erst dann meinte sie etwas anderes wahrzunehmen, es klang wie ein Summen. Das brachte sie auf die Füße. Das Laufen wollte nicht gleich gelingen, ihr knickten noch einige Male die Beine weg.
Draußen vor der Stadt, sobald sie das Schloss sehen konnte, war sie in die Lahn gestiegen. Da, wo es flach war, legte sie sich mitsamt ihren Kleidern ins Wasser. Sie hatte ihre Haube vom Kopf genommen, ihr Haar gewaschen, alles gewaschen, und lag so im Fluss. Ihr Körper war kalt geworden, sie musste ihn kaum mehr spüren. Während sie am Ufer gesessen hatte, bis ihre Kleider trocken waren, beschloss Bettina, dass sie vergessen konnte.
Niemand merkte ihr etwas an, auch nicht Götze, den sie liebte, so wie er sie. Er hatte sie nie bedrängt, Dinge zu tun, die ihr zum Verhängnis werden konnten. Götze war ein treuer Diener seines Herrn, die Heiratserlaubnis des Richters verstand er als Ehrensache.
Wenn Götze sie in den Armen hielt, sagte Bettina, und zärtlich mit ihr war wie sonst auch, dann hatte sie fest daran glauben können, dass der Schreckliche von der Lahn fortgespült worden war. Den Rest würde das Monatliche erledigen, dachte sie. Doch die Reinigung war ausgeblieben.
Marthe hielt die Hand von dem armen Ding, das sich vor Weinen kaum halten konnte. Sie sah zur Gottschalkin hinüber, die barfuß vor ihnen in der Küche stand, die Hände in den Taschen ihres grünen Morgenmantels, in dem auch die Spitze ihres Zopfes zu verschwinden schien. Sie dachte wohl nach.
»Einmal ist das Monatliche ausgeblieben?«, fragte sie. »Das muss noch kein sicheres Zeichen sein.«
Nun wollte die Ärmste vollends außer sich geraten, doch Marthe gelang es mit der Kraft ihrer alten Hände, sie auf dem Stuhl zu halten. Es war gut, dass sie sich beruhigte, und die Gottschalkin kam zu einer Entscheidung.
»Ich werde dich untersuchen, Bettina«, sagte sie. »Wenn es sich so verhält, wie du sicher zu wissen meinst, wirst du mindestens drei Tage in meinem Haus bleiben müssen. Wird das gehen?«
Es zeigte sich, dass Malvine Homberg den Tod eines weiteren Familienmitglieds ihres Dienstmädchens besorgt zur Kenntnis nahm. Zwar mochte sie im Stillen empfunden haben, dass sich das Sterben von Bettinas Leuten derzeit etwas lästig gestaltete, doch das brave Ding litt so entsetzlich. Die Frau Rat hatte ein Herz für das Mädchen und würde sie noch einmal gehen lassen.
Im Gebärhaus hatte die Entbindung der ehemals Fieberkranken unter keinem guten Stern gestanden. Das war im Nachhinein wohl von jenem gesamten Tag zu sagen. Noch am Vormittag hatte es sich gänzlich anders dargestellt. Das Bild der drei schwangeren Weiber – wie sie in der frisch gelüfteten Kammer saßen, mit den Flachsbündeln zu ihren gewaschenen Füßen und einem fröhlichen Kind von etwa fünf Jahren in ihrer Mitte, wie sie die Spinnrocken fleißig in den Händen bewegten -, es hatte Professor Kilian flüchtig zufrieden gestimmt. Da war ihm die übertriebene Zurückhaltung der
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