Die Hebamme
nehmen lassen, und jetzt verfolgte er ungeduldig, wie sie nach vorn zu den Schränken eilte.
»Ich habe das noch nie gemacht«, hörte sie Lotte flüstern.
»Und Sie, Langwasser?«
»Ein einziges Mal, ich …« Das Wendestäbchen war dem Tante Beles ähnlich, das Holz vermutlich ein kostbareres, es glänzte fast schwarz. Der schlanke Stab hatte einen abgerundeten Griff und am oberen Ende eine schmale Öse, in der eine Schlinge aus Leinenband befestigt war.
»Das Erfahrungswissen wird doch im Hebammenstand recht hoch bewertet, wenn ich es recht erinnere, nicht wahr«, sagte Kilian hinter ihr. »Also bitte, Langwasser, zeigen Sie es ihr. Nein, einen Moment noch. Seiler, Sie referieren im Tastbefund zunächst die Lage des Kindes.«
Lotte tastete und referierte. Das Kind befand sich in der Querlage. Ihre Stimme schwankte, und sie hörte nicht auf zu zittern. Kilian hatte die Hände auf dem Rücken zusammengelegt und schritt seitlich von ihnen auf und ab, während er mit regungsloser Miene zuhörte.
»Er wird mich durchfallen lassen«, flüsterte Lotte, als Kilian auf der Fensterseite des Saals angekommen war. Unter den Achseln ihres dunklen Kleides hatten sich noch dunklere Flecken ausgebreitet. Doch es war ein süßlicher Geruch, den Gesa wahrnahm, ebenso wie wahrscheinlich Lotte, deren bebende Finger an der Schürze hinabfuhren. »Ich weiß es, er wird mich durchfallen lassen.« Lotte schniefte. Der Geruch kam aus der ledernen Mutter.
»Langwasser, ich warte!«
»Beug dich zu mir und schau mir zu«, sagte Gesa leise. »Er soll nicht sehen, dass du weinst.«
Ihre Hände erfühlten die kalte Haut des toten Kindes. Während sie an dem zusammengekrümmten Körper vorbeigriff, um das Wendestäbchen vorsichtig an ihrem Handgelenk entlangzuführen, berührte ihr Gesicht zuweilen den ledernen Schenkel des geburtshilflichen Phantoms. Kilian hatte dahinter Stellung bezogen und beobachtete wortlos, wie sie das Füßchen erreichte, die Schlinge darum legte und es behutsam unter der Führung ihrer Hand nach unten zog.
»Nun also, Schülerin Seiler«, sagte er. »Entwickeln Sie das Kind aus dem Mutterleib. Wie werden Sie vorgehen?«
Gesa erhob sich, und Lotte nahm ihre Stellung vor dem Gebärstuhl ein. Für einen Moment schloss sie die Augen, dann legte sie eine Hand auf den Leib der ledernen Mutter, während die andere nach dem Leichnam tastete. Ihre Stimme war beinahe gefestigt, als sie erläuterte, dass sie im Begriff war, das Kind aus der Querlage auf den Steiß zu wenden, und warum dies bei der vorgefundenen Lage die beste Möglichkeit war, es zu holen. Der Professor wandte sich ab, sobald ihr dies gelungen war.
Gesa wünschte, Lotte würde aufstehen, doch sie kniete – wartete mit dem bläulichen Kind in ihrer Schürze und schaute auf den Rücken des Professors, rettete ihren Blick vielleicht in eine kleine Querfalte, die sich dort in seinem Gehrock befand. Als er sich umdrehte, mochte ihr das Gelb seiner Weste freundlich erscheinen.
»Ich hoffe doch, dass Sie sich nun in der Lage sehen«, sagte Kilian, »den Hebammeneid abzulegen, dem Sie verpflichtet sein werden. Ich würde es begrüßen, Lotte Seiler, wenn Sie zu diesem Zweck aufstehen und vor Ihre Lehrer treten wollten.«
Gesa nahm Lotte den Leichnam ab und trug ihn zum Untersuchungstisch. Sie hüllte den Körper in nasse Tücher, die dafür bereitlagen.
»Ich schwöre zu Gott, dem Allmächtigen, dass ich meinem Amt in allen Dingen treulichst nachkommen will«, hörte sie Lotte sagen, »und möglichsten Fleiß, Verschwiegenheit und Treue beweisen, keine Frau, weder reich noch arm, mutwillig versäumen oder verwahrlosen lassen …« Gesa vernahm den Stolz und die Erleichterung, die auch sie bald empfinden würde. »Ich will keiner Frau, die sich in Schmerz und Angst befindet, ungebührliche Worte geben, sondern sie bestens trösten und stützen …«
Gesa begegnete dem Blick Doktor Heusers. Plötzlich meinte sie zu wissen, dass er sie nicht aus den Augen gelassen hatte, seit sie nach vorn gerufen worden war.
»Wo sich gefährliche und missliche Fälle zutragen«, sprach Lotte den Eid weiter, »soll ich es nicht ungesäumt lassen, anderen verständigen Frauen Nachricht zu geben, und wenn die Not es fordert, einen Physicus oder Medicus ordinarius holen zu lassen …«
Während Kilian zuhörte, dachte er, wie sehr Veränderungen nötig waren. Vor dem Collegium medicum, das sich mit Beginn dieses Semesters endlich bequemt hatte, ihn als Mitglied zu
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