Die Hebamme
Gottschalkin schon aufgefallen. Bescheidenheit war zwar durchaus nicht die schlechteste aller Tugenden für eine Weibsperson, jedoch wie diese Hebamme auftrat an jenem Tag, auf dessen Vorbereitung er große Mühe verwendet hatte, das war aus heutiger Sicht nur arrogant zu nennen.
Es war der Prüfungstag für die Schülerin Seiler, an dem Kilian die Dinge Revue passieren ließ. Die Befragung war so gut wie abgeschlossen. Möglicherweise war er etwas gereizt.
Die erste Niederkunft im neuen Semester hatte tatsächlich nach anfänglich heftiger Wehentätigkeit einen schlechten Verlauf genommen. Ob das Ungeborene durch das mütterliche Fieber geschwächt worden war oder ob der Geburtsvorgang ihm die Kraft zum Überleben raubte, war schwer zu sagen. Die Sektion des kleinen Körpers hatte ihnen darüber keine Auskunft geben können. Das Kind männlichen Geschlechts war in weniger als einer Stunde nach seiner Geburt gestorben. Auf Wunsch seiner Studenten hatte Kilian die Leichenöffnung noch am Ende jener langen Nacht vorgenommen, selbstverständlich in Anwesenheit der beiden Schülerinnen, die einer solchen Übung noch nie beigewohnt hatten.
Die Wöchnerin verfiel am folgenden Tag in eine schreckliche Raserei. Man konnte sie nicht ohne Aufsicht lassen. Es hatte damit begonnen, dass ihre Brüste sich unter der einströmenden Milch verhärteten. Man versuchte ihr dagegen eine Gabe Salpeter beizubringen, doch sie spie die Medizin aus. Sie sträubte sich gegen jede Arznei. Man beschloss, den Säfteandrang zum Hirn zu schwächen, und ließ ihr neun Unzen Blut aus dem Fuß. Ihr fortgesetztes Toben und Sträuben machte dies fast unmöglich. Der Versuch Doktor Heusers, der Frau eine Kampferemulsion einzugeben, endete damit, dass sie ihm den Rock bespuckte. Fieberhitze befiel sie, der Puls wurde schnell und sehr klein. Das Delirium dauerte an, ja verschlimmerte sich auf bizarre Weise. Sie musste im Bett festgehalten werden wie ein Kind in der Wiege – man schnürte sie eng in die Decken. Phantasien peinigten die Wöchnerin, die sie in Reimen vorbrachte und zuweilen mit lauter, melodischer Stimme sang. Einen weiteren Tag später entschloss man sich, das Töchterchen der Frau in die Kammer zu lassen, was sich als hilfreich erwies. Das Mädchen hatte der Mutter erzählt, dass sein Geschwister eine Elfe geworden war, sie hätte es selbst gesehen. Daraufhin verfiel die Frau in bitteres Weinen und war sehr wehmütig nach ihrem toten Kind. Vom Abend an wurde sie stiller und nahm bald eine erste Mahlzeit ein.
Der kleine Körper war mit einer Naht geschlossen worden, die einer der fortgeschrittenen Studenten zufrieden stellend durchgeführt hatte. Kilian hatte entschieden, das Skelett des Kindes seiner Sammlung hinzuzufügen, was ein langwieriges Verfahren erforderte. Doch bevor der Leichnam sich im Regenwasser zersetzen würde, sollte er für eine kurze und umso kostbarere Zeit einem anderen Zweck dienen.
Er hatte ihn persönlich in das Innere des geburtshilflichen Phantoms gebettet und dabei eine Stellung gewählt, die eine Wendung auf die Füße notwendig machte.
Kilian wandte sich nur halb der Schülerin zu, die mit starrem Blick sein Tun verfolgte.
»Haben Sie je Wendestäbchen benutzt?«, fragte er und ging zu den aufsteigenden Bänken des Auditoriums hinüber, wo der Kollege Heuser saß.
»Was?«
Die Schülerin Seiler schien nichts zu begreifen. Oder sie wollte es nicht. Es sollte ihr nichts nutzen. Niemandem nutzte ein lascher Prüfungsverlauf. Deshalb hatte er Heuser gebeten, ein Protokoll zu führen, das er für seinen Vortrag vor dem Collegium medicum zu kommentieren gedachte.
»Ob man Sie je im Umgang mit Wendestäbchen unterwiesen hat, da, wo Sie herkommen?«
»Herr Professor Kilian, ich denke, die Schülerin hat uns hinreichend von ihren Fertigkeiten in Kenntnis gesetzt, um ihr …«
»Ich prüfe eine Hebamme, die unser Haus verlassen will, um anschließend ohne unsere Aufsicht über Leben und Tod zu entscheiden, geschätzter Kollege Heuser, und ich beabsichtige das in einer angemessenen Weise zu tun. Also?«
Die Schülerin blieb stumm und stierte.
»Langwasser! Wollen Sie Ihrer … Freundin gütigst eines der Wendestäbchen aus dem Schrank holen, die wir dort als Relikte der Hebammenkunst ausgestellt haben.«
Gesa sah Lotte zittern. Sah, dass sie es kaum wagte, den Kopf zu schütteln, und dass ihr Blick sie suchte, über die Bankreihen hinweg. Kilian hatte sie zu Beginn der Prüfung hinten im Auditorium Platz
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