Die Heidehexe - Historischer Roman
vom Täter, der die ganze Familie auf so grausige Weise ausgerottet hatte. Womöglich versteckte er sich in einer der Dachkammern oder in den unterirdischen Katakomben? Wartete darauf, auch ihm und Victor, den beiden Letzten aus dem Grimmshagener Geschlecht, das Lebenslicht auszublasen?
Hatte der Vater ihnen in seiner Lebensbeichte alle Schandtaten gestanden? Oder gab es ein weiteres düsteres Geheimnis, das den Mörder veranlasste, blutige Rache zu nehmen? War es gar eine Frau, wie das Gesinde steif und fest behauptet hatte? Auch Adelheid war davon überzeugt gewesen, bevor sie enthauptet aufgefunden worden war.
Isabellas Gesicht tauchte für den Bruchteil von Sekunden vor ihm auf. War etwa sie es, die das furchtbare Ende ihrer Mutter vergelten wollte? Hatte die Schöne womöglich nur deshalb Victor geheiratet, um ständig in der Nähe der beiden Brüder sein zu können, sie bei geeigneter Gelegenheit ebenfalls zu enthaupten, ohne in Verdacht zu geraten? ‚Hexe’ wurde sie von der hiesigen Bevölkerung gerufen, wie auch bereits zuvor Rubina. Grenzte es nicht an Zauberei, wie sie den Soldaten bei jeglichen Gebrechen durch ihre sonderbaren Säfte und Salben die Schmerzen zu nehmen vermochte? Kein studierter Medikus konnte ihr das Wasser reichen. Mit rechten Dingen geht das nicht zu, philosophierte er.
Kaum gedacht, schämte er sich seiner Überlegung. Nein, Isabella war über jeden Zweifel erhaben. Sein Herz krampfte sich zusammen, wenn er sich ihre liebliche Gestalt vor Augen rief. Ihr schönes, trauriges Gesicht, die allzeit helfende Hand, das sanfte, scheue Wesen zeugten eher von der Gegenwart einer Elfe oder einer guten Fee, die sich unter Menschen gesellt hatte.
Verzeih, Isabella, das s ich nur eine Sekunde deinem Edelmut misstraute, du Königin meiner Seele, bettelte sein Inneres. Und auch dafür schämte er sich vor seinem versehrten Bruder. Er liebte sie. Liebte sie, seitdem ihr Fuß das erste Mal die Schwelle des Schlosses übertreten hatte. Konnte diese übermächtige, ihn zu verschlingen drohende Liebe nicht aus seinem Herzen reißen, so sehr er es versuchte. Alles würde er ihr verzeihen, alles tun, sie zu besitzen. Aber niemals den eigenen Bruder hintergehen. Oh, wie er den Widerstreit der Gefühle hasste. Er verscheuchte die Gedanken an die Frau seiner Träume. Dann lieber über das Ableben seinen Angehörigen sinnieren.
Die Tage eilten dahin. Die Fürstenfamilie konnte förmlich zusehen, wie Victor und Christian neue Kräfte tankten, ihre ausgemergelten Gesichter wieder Glanz und Farbe gewannen.
Ulrich hatte nicht nur für seinen Bruder einen kunstvollen Eisenarm anfertigen lassen, sondern überraschte den Grimmshagener mit einer dem menschlichen Bein nachgebildeten Holzprothese, die einen gefederten Fuß besaß und am Stumpf unterm Knie festgeschnallt werden musste.
„Nun denn. Auf ein Neues. Kamerad, wir sind wieder dabei!“, rief Christian und strahlte. Selten hatte Victor den Freund derart glücklich gesehen. Er wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, nicht die kindliche Freude trüben. Darum wählte er seine Worte sorgfältig.
„Schön, dass du dir deinen Kampfgeist erhalten hast, Christian. Mit der rechten Hand lässt sich das Schwert gut führen. Gott sei Dank ist es der linke Arm, den du im Feld verloren hast. Wäre es der andere, sähe dein zukünftiges Los trüber aus. Aber so wirst du sicher noch manche Schlacht gegen die Feinde gewinnen. Dein Heldenmut ist schließlich sprichwörtlich. Führe den Protestantismus zum Sieg. Meine guten Wünsche begleiten dich.“
„Und was ist mit dir?“, fragte der Fürstensohn irritiert. „Willst du nicht an meiner Seite weiterhin für die Glaubensfreiheit unseres Vaterlandes streiten? Oder wie soll ich deine Sätze deuten?“
„Du hast recht gut verstanden, was Victor dir mitteilen will“, mischte sich Alwin ein, „er ist nur zu taktvoll, um dir die Wahrheit zu sagen, nämlich, dass Invaliden nichts im Heer zu suchen haben. Waren das nicht auch immer deine Worte, bevor du selbst zu einem Krüppel wurdest?“
„Christians Gesicht wurde aschfahl. Die eben noch lachende Miene verdüsterte sich. „Wer hat dich um deine Meinung gefragt, du Weichling? Der Krieg ist nur für harte Männer, die weder Tod noch Teufel fürchten. Du, Alwin, gehörst nicht dazu. Warst nie einer der Unsrigen. Zitterst vor jedem Angriff der Kaiserlichen. Hast dich dem Heer nur angeschlossen, weil du ohne Victor vor Furcht in Eurem Schloss ein heulendes
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