Die Heilerin - Roman
sie.
»Wir hatten alle solche Angst um dich«, sagte Aylin. »Tali hat uns erzählt, dass du ihren Schmerz und ihren Platz übernommen hast. Ich kann gar nicht glauben, dass du so ...«
»... dumm sein konntest«, beendete Danello den Satz an ihrer Stelle.
»Danello!«, keuchte Aylin.
Mit einem raschen Blick auf Soek ergriff Danello meine Hand. Seine Kiefermuskulatur war angespannt, seine Augen voller Sorge. »Du hättest nicht allein gehen dürfen, Nya. Du hattest das Pynvium, du hättest einen anderen Heiler zu uns bringen können.«
»Zurückzugehen war die einzige Möglichkeit, Tali rauszuholen.«
»Nein, war es nicht. Es war nur die einzige Möglichkeit, an die du gedacht hast.« Er strich sich mit der Hand über die Lippen und sah aus, als wisse er nicht, ob er mich ohrfeigen oder umarmen sollte. »Du hast uns geholfen«, sagte er. »Was bringt dich auf den Gedanken, wir würden dir nicht helfen?«
Mein Mund klappte auf, hatte aber keine Antworten mehr zu bieten. Warum hatte ich nicht daran gedacht, dass er mir helfen würde ? Rechnete ich nicht mehr damit, dass Leute einander auch dann halfen, wenn sie nicht zur Familie gehörten?
Seit langer Zeit hatte sich niemand um mich gesorgt außer Tali und Aylin, niemals im Leben ein Junge. »Warum hättest du das tun sollen? Du hast eine eigene Familie, für die du sorgen musst.«
»Man sorgt erst für die Familie, dann für die Freunde und dann für die Nachbarn, wenn man dazu imstande ist.« Er lächelte verlegen und rieb mit dem Daumen über meine Fingerknöchel. Mir fiel auf, wie zerkratzt und schmutzig sie waren, aber ich zog die Hand nicht weg. »Das ist etwas, was mein Paps immer sagt.«
Aylin nickte. »Meine Mutter hat das auch gesagt. Geveger halten zusammen. Diese gierigen Baseeris würden uns die Kleider vom Leib stehlen, wenn wir keine Freunde hätten, die auf sie aufpassen.«
»Äh, he, Nya«, sagte Soek und zupfte an meinem Ärmel. »Ich unterbreche euch nur ungern, aber da vorn ist irgendwas los.«
Ich blickte auf. Auf der Straße herrschte dichtes Gedränge, aber das war heutzutage nicht ungewöhnlich. »Ich sehe nichts.«
»Dann sperr die Ohren auf.« Er trat zum Ende der Gasse und legte den Kopf schief. Eine Sekunde später folgte Aylin seinem Beispiel.
»Nya, er hat recht«, rief Aylin und winkte uns heran. »Alle reden über die Gilde.«
Wir ließen die Sicherheit der beengten Gasse hinter uns und traten ein paar Schritte weit auf die Straße.
»... irgendeine Ankündigung ...«
»... wegen des Fährenunglücks ?«
»... was sollen wir ohne ...«
Furcht breitete sich in meinem Inneren aus. Die Leute rannten mit besorgten Mienen in Richtung Gilde. Über die ängstlichen Stimmen hinweg erklang das Läuten der Versammlungsglocke.
»Wir müssen herausfinden, was los ist«, sagte ich.
»Ich würde lieber nicht dahin zurückgehen«, sagte Soek nervös.
»Hast du Familie hier?«, fragte ich ihn. »Freunde?«
»Niemanden. Ich war ganz allein in Verlatta, aber ich bin schon vor Beginn der Belagerung dort rausgekommen. Ich wusste, das würde schlimm werden. Ich bin gegangen, hierhergekommen und habe mich der Gilde angeschlossen. Danach ging's bergab.«
»Uns wird nichts passieren, wenn wir zusammenbleiben. Danello hat sein Rapier. Und unter all diesen vielen Leuten wird uns niemand erkennen. Wir gehen einfach rüber, hören uns an, was sie zu sagen haben, und verschwinden wieder.«
Soek sah immer noch recht unsicher aus, nickte aber. »Also gut. Ich vertraue dir.«
Ich vertraute ihm auch, wenn ich auch nicht sagen konnte, warum. Vielleicht, weil wir beide anders waren und weil wir beide viel riskierten, wenn wir uns in die Nähe der Gilde wagten.
Danello nahm meine Hand. »Bleib dicht bei mir, falls es Ärger gibt.«
Wir verschmolzen mit der Menge und ließen uns zum Gildeplatz treiben. Die Versammlungsglocke klang hier lauter, hörte aber nach einer Minute auf zu läuten, und das letzte scharfe Ringen verhallte in der späten Morgenbrise. Eine kleine Plattform war aufgestellt worden, und die Menge verstummte, als Meisterheiler Ginkev sie betrat.
Ich schluckte und kämpfte gegen das Verlangen an, mich ganz klein zu machen, obwohl er mich in der Menge unmöglich ausmachen konnte. Dennoch drängte ich mich näher an Danello heran und suchte hinter seinen breiten Schultern Schutz.
»Guten Morgen«, fing Ginkev an, und seine Stimme klang gleichzeitig traurig und unsicher. »Ich habe schlechte Nachrichten zu verkünden und bitte euch
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