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Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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verrottete, bis die Vorräte so weit zur Neige gingen, dass sie entdeckt wurde.
    Tränen des Selbstmitleids rannen in ihre Ohren, und nach vielen einsamen Stunden und Tagen, in denen sie entweder vor Kälte schlotterte oder vor Fieber glühte, begann sie den Tod herbeizusehnen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es war, sich frisch und kräftig zu fühlen. Gesundheit schien ein fremdes Land zu sein, das sie nie wieder besuchen würde. Es war eine zu große Anstrengung, die Willenskraft aufzubieten, gesund zu werden. Sie fand es leichter, zu sterben. Sie hatte schließlich und endlich den Umkehrgrenzpunkt erreicht. Feyra schloss die Augen, wobei sie hoffte, es sei das letzte Mal, und ließ sich davontragen …
    Sie fand sich allein in einem großen, luftigen Raum mit milchweißen, eiglatten Fliesen wieder. In der Mitte des Raums stand ein Sarg, der so klar schimmerte wie Glas. Sie ging darauf zu und sank auf die Knie, und als sie sich darüber beugte, konnte sie den in Eis eingeschlossenen alten Sultan Selim sehen. Seine toten Augen starrten sie an, seine Haut wies eine bläuliche Färbung auf. Sie legte die Hände auf das Eis, woraufhin sie gleichzeitig feucht und kalt wurden. Sie fröstelte, musste unbedingt ihre Hände wärmen. Sie erhob sich und ging zum Fensterbrett hinüber, auf dem ein in der Sonne glänzender goldener Kasten stand. Als sie danach griff, befand sie sich plötzlich im Freien.
    Die sengende Sonne erhitzte die Schatulle in ihrer Hand, bis sie sie kaum noch halten konnte. Aber sie erklomm den Hügel nach Üsküdar am anatolischen Ufer, wo die große Moschee über der Stadt gebaut wurde. Sie konnte sich nach dem Architekten, dem Architekten fragen hören, denn sie war angewiesen worden, das Kästchen nur Mimar Sinan persönlich zu übergeben.
    Es war zwingend notwendig, dass sie den Architekten fand. Sie fragte jeden Steinmetz, der die frisch geschnittenen weißen Steinblöcke bearbeitete, drehte jeden Mann an seinem Gewand zu sich um, blickte in jedes bärtige Gesicht. Sie war verzweifelt. Sie musste den Kasten loswerden, das Gold verbrannte ihre Hände. Sie selbst brannte. Wo war der Architekt?
    Endlich kam sie zu einer Tür, in deren Querbalken ein Zirkel eingemeißelt war. Dieser Zirkel war nicht silbern wie der ihres Vaters, sondern golden und gebogen – der Zirkel eines Steinmetzen. Die Tür wurde geöffnet, und sie sah ihn, einen freundlichen, bärtigen alten Mann. »Seid Ihr der Mann, den man Samstag nennt?«, fragte sie. Er nickte, und sie legte den Kasten erleichtert in seine schwieligen, mit weißem Steinstaub überzogenen Hände. Er verneigte sich vor ihr. »Sagt der Valide Sultan, dass ihre Moschee eine große Kuppel haben wird«, sagte er. Dann lief Feyra zurück, durch den Basar und den Beltan, lief und lief, bis zum Topkapi-Palast. Sie rannte durch die inneren Höfe, erreichte das Gemach der Valide Sultan und zog den weißen Vorhang zurück, doch ihre Herrin hatte sich bereits in einen aufgedunsenen, in ihren Bettdecken verrottenden Leichnam verwandelt. Feyra streckte eine Hand aus, um die meerblauen Augen ihrer Mutter zu schließen, und als sie dies im Traum tat, riss sie in ihrer eigenen dumpfen Realität ihre eigenen Augen auf.
    Feyra fuhr sich mit der Zunge durch ihren strohtrockenen Mund und setzte sich mühsam auf. Sie war immer noch schwach und schwitzte stark, aber sie wusste, dass die Krankheit vorüber war. Als sie die Finger vor das Gesicht hielt, stellte sie fest, dass sie wieder ihre normale Farbe angenommen hatten. Es musste Nacht sein, denn die Ritzen im Schiffsrumpf waren dunkel, und die Lampe schwang leise knarrend an ihrem Haken hin und her und warf groteske Schatten auf Boden und Wände.
    Ihren Schleier und ihren Hut hatte sie verloren, als sie sich auf ihrem provisorischen Lager umhergewälzt hatte. Ihr Medizingürtel war unversehrt, saß aber locker auf ihrer schmal gewordenen Taille. Feyra zwinkerte zwei Mal und drehte ihren schmerzenden Kopf – ihr Haar glitt wie ein dickes salzverkrustetes Seil zwischen ihre Schulterblätter, als sie sich den Hals verrenkte, um hinter sich zu blicken. Der Abdruck ihres Körpers zeichnete sich in den Säcken ab, auf denen sie gelegen hatte, und war dunkel vor Schweiß. Dort, wo die Beule in ihrer Achselhöhle aufgebrochen war und ihren Inhalt in das Sackleinen entleert hatte, prangte ein hässlicher schwarzer Fleck. Als sie den linken Arm hob, sah sie ähnliche Flecken auf ihrem Gewand. Sie kam nicht dazu,

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