Die heilige Ketzerin: Historischer Kriminalroman (German Edition)
ältere Frau aus der unteren Wohnung meldete sich wieder zu Wort: »Gestern morgen hörte ich nix von den beiden. Maria kam auch nicht auf ’em Weg zur Kirche bei mir vorbei. Da hab ich mir Sorgen gemacht und bin zu denen hochgestiegen. Kunibert lag denn da tot auf’m Boden, und ich bin sofort zum Rathaus gelaufen.«
In der Wohnung
Die beiden jungen Leute betraten die Wohnung der Nachtigals, die unter dem Dach des Hauses lag. Es stand noch alles so herum, wie Agnes es in Erinnerung hatte. Nur war Kunibert inzwischen weggetragen worden. Er war bei seinen Eltern zur Totenwache aufgebahrt. Sie zeigte Ludolf die Blutlache, in der der Tote gelegen hatte.
Überall waren Blutspritzer, auf dem ganzen Boden verteilt.
»Hier muss ein Kampf stattgefunden haben«, bemerkte Agnes.
Eine Blutspur führte in die Schlafkammer. Das musste Marias Blut sein, denn sie hatte sich ja in die Kammer geflüchtet. Die zwei folgten der Fährte.
»Ich habe mich gestern schon gefragt, warum Maria nicht auch ermordet wurde. Ging es am Ende doch nur um Kunibert?«, fragte Agnes.
Ludolf nickte »Vielleicht ist wirklich etwas an der Sache mit den anderen Holzfällern dran. Da sollten wir unbedingt dranbleiben.«
Die beiden durchstöberten die gesamte Wohnung, fanden aber nichts Auffälliges. Eine einfache und saubere Einrichtung, wie es sie in jedem beliebigen Haus geben konnte. Zwei Truhen mit Kleidung und Wäsche, ein Tisch, drei Stühle, ein grob gezimmertes Regal mit ein paar Tellern und Schüsseln, ein Kruzifix, eine Feuerstelle und schließlich das Bett.
»Agnes?«
Sie wandte sich zu Ludolf um.
»Warum hast du dich seit fast einem Jahr nicht mehr gemeldet? Du hattest zwar gesagt, du wolltest dir die Sache mit uns noch überlegen, aber dann hörte ich nur noch, dass du nach Rinteln gegangen bist.«
Die junge Frau antwortete erst nach einem Augenblick. »Ich brauchte eine Herausforderung, die mir zeigen sollte, ob ich wirklich Nonne sein wollte. Das Stift in Möllenbeck ist viel angenehmer und bietet sehr viele Freiheiten. Dieses Kloster ist strenger. Man hat mehr zu tun, und es gibt auch beschwerlichere Arbeiten.«
»Du willst also Nonne bleiben?«
Agnes wich aus: »Ich suche jetzt lieber das Messer, mit dem Kunibert ermordet wurde. Vielleicht liegt es hier herum.«
Enttäuscht ging Ludolf zu dem kleinen Altar hinüber. Auf dem Boden stand eine kleine Bank zum Hinknien, und an der Wand darüber hing ein Kruzifix von etwa zwei Spannen 12 Größe. Das Kreuz war aus dunklem Holz gefertigt, und darauf war die weiße Figur befestigt. Die Plastik selbst war aus einem hellen Stein – wahrscheinlich Gips – hergestellt und dann glasiert worden.
Ludolf hockte sich hin und begutachtete den dunklen Fleck auf dem Boden unterhalb der Statue. Die Bodenbretter waren feucht.
»Maria sagte mir, Christus soll geweint haben«, erklärte Agnes. »Der Fleck muss von den Tränen stammen.«
»Dieses Ding soll weinen?« Seine Zweifel waren deutlich zu spüren.
Die junge Nonne kannte Ludolfs zynischen Ton nur zu gut. »Das ist kein Ding, das ist etwas Heiliges! Es stellt unseren Herrn dar!« Sie wurde jedes Mal wütend, wenn er abfällig über Glaubensdinge sprach. Aber er hatte im Moment nur Augen für den Fleck.
»Ein Gegenstand kann nicht weinen«, antwortete er schließlich.
»Ach ja? Was steht denn in der Bibel? Jesus selbst sagte über seine Jünger:
Wenn diese stumm blieben, würden die Steine schreien
. 13 «
Ludolf stand auf und drehte sich zu ihr um. »Das war ein Sinnbild. Oder ist irgendwo in der Bibel beschrieben, dass Steine geschrien haben?«
Agnes funkelte ihn empört an. »Nein«, presste sie hervor.
»Na, also. Warum sollen dann Steine weinen?«
»Dies ist kein Stein!«, sagte Agnes. »Es ist ein Abbild unseres Herrn!«
»Aber aus Stein.«
Diesmal würde sie sich nicht auf ein Streitgespräch mit ihm einlassen. Sie wusste ganz genau, dass er wieder mit irgendwelchen kruden Überlegungen ankam, die logisch erschienen, aber doch falsch sein mussten und auf die man keine passende Entgegnung wusste. Und schon hatte dieser elende Besserwisser wieder gewonnen. Aber heute nicht. Heute ließ sie sich nicht auf diesen Zweikampf ein.
»Ich will mich nicht über so etwas mit dir streiten. Ich suche das Messer.« Und sie verschwand in der Schlafkammer.
Ludolf grinste. Agnes war so leicht zu provozieren. Doch andererseits hatte er ein schlechtes Gewissen. Im Moment erging es ihr gar nicht gut im Kloster. Da wollte er ihr nicht noch
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