Die heilige Ketzerin: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Selbst Simon hielt in seinem Toben inne und blickte die Erwachsenen irritiert an.
Der weißhaarige Mann fing sich als Erstes. Er versuchte, locker zu klingen. »Nehmt das Gerede eines alten, senilen Mannes nicht ernst. Ich rede viel, wenn der Tag lang ist.«
Agnes schüttelte vehement den Kopf. »Nein, werter Herr. Im Gegenteil. Auch wenn das, was ihr sagt, brutal klingen mag, so hat es doch einen wahren Kern. Maria hat schon mehr Schlechtes erleben müssen als viele von uns.«
Wieder entstand eine Pause, in der jeder an das traurige Schicksal der jungen Frau dachte.
Schließlich unterbrach Ludolf die Stille. »Herr Binder, wisst ihr, was zwischen Maria und Ulrich von Engern vorgeht?«
»Was meint ihr?«
Agnes schaute verstohlen auf den Jungen und beugte sich vor. Leise antwortete sie: »Etwas Unmoralisches?«
Doch Simons Aufmerksamkeit entging nichts. Frech rief er dazwischen: »Genauso redet Mutter auch immer. Sie meint, ich wär noch nicht alt genug für so was.«
»Das bist du auch nicht.«
»Das bist du auch nicht«, äffte er nach und verschwand beleidigt zwischen den Bäumen.
Der ehemalige Verwalter grinste, als er dem Jungen hinterherschaute. »Daran habe ich schon gedacht. Ich habe die beiden sehr genau beobachtet. Der Herr von Engern bringt sich ja fast um, wenn es um Maria geht. Mit leuchtenden Augen erzählt er von Maria hier und Maria da. Abscheulich. Und das in aller Öffentlichkeit.«
»Aber trotzdem gab er sie Kunibert Nachtigal zur Frau.«
Nikolaus Binder nickte nachdenklich. »Das hat mich auch gewundert. Aus zweierlei Gründen.«
Agnes und Ludolf richteten sich erstaunt auf. Der alte Mann sah mit Genugtuung, dass er die jungen Leute hatte aufscheuchen können. Genüsslich strich er sich durch seinen weißen Bart und lächelte vergnügt.
»Einerseits hat es mich gewundert, warum Ulrich seine Maria überhaupt gehen ließ. Andererseits aber war sie ...« Er machte wieder eine effektvolle Pause. »... einem anderen versprochen.«
»Wem denn?« Agnes hielt es kaum noch auf der Bank. Sie war aufs Äußerste gespannt. Welche Teufelei kam nun wieder zum Vorschein?
Der ehemalige Verwalter schüttelte den Kopf. »Das weiß ich leider nicht. Maria nannte mir seinen Namen nicht. Nur dass es ein Bekannter Ulrichs sein sollte.«
»Und trotzdem hat Kunibert sie bekommen.«
»Richtig, meine Liebe. Warum?«
Agnes und Ludolf sahen sich an. Sie dachten an den Vorfall zwischen Ulrich und Kunibert, über den die Nachbarin berichtet hatte. Mit irgendetwas hatte der junge Mann den Herrn von Engern in der Hand. Ob es mit dem Missbrauch Marias zusammenhing?
Plötzlich stand Simon mitten zwischen den Erwachsenen. »Ich weiß aber, wen Maria heiraten sollte.«
Nikolaus schmunzelte. »Wie konnte ich nur vergessen, dass du ihr Freund bist.«
»Es ist Hartwich.«
»Den kenn ich nicht.«
»Dafür wir«, entgegnete Agnes. »Das ist der Busenfreund von unserem hochverehrten und heißgeliebten Herrn von Engern.« Sie war erschüttert. So sollte das Mädchen von einem rücksichtslosen Kerl zum nächsten weitergereicht werden. Wie ein Pferd, das man einfach weiterverkauft, wenn man es nicht mehr gebraucht oder ein neues bekommen hat. Seitdem Ulrich irgendwie Zugriff auf die Novizinnen bekommen hatte, hatte er sich nach Lust und Laune dort bedient und konnte Maria großmütig an einen Freund abtreten. Wahrscheinlich hatte er schon oft genug von ihren Qualitäten und Vorzügen geschwärmt, sodass es dieser Hartwich kaum erwarten konnte. Selbst jetzt, ein Jahr später, hatte sich Ulrichs Freund noch immer nicht von dieser Zurücksetzung erholt und Maria am Tag des Überfalls besucht. Simon hatte den Streit ja glücklicherweise mitbekommen. Vielleicht hatte Hartwich ja gedacht, dass, wenn Kunibert tot war, er zum Zug kommen konnte.
»Arme Maria.« Die Stimme des alten Verwalters war voller Bedauern. »Engern und Bassenberg nutzen sie nach Strich und Faden aus. Machen ihre Visionen bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit bekannt, um sich selbst hervorzutun. Die einen sehen in Maria die Heilige, die Gott nach Rinteln geschickt hat, andere sehen in ihr nur ein Instrument, um die Menschen noch weiter in die Abhängigkeit zu drängen und noch mehr auszubeuten.«
»Gibt es noch andere Leute hier, denen die Verehrung Marias ein Dorn im Auge ist?«, wollte Ludolf wissen.
»Dem Rat der Stadt gefällt das zum Beispiel gar nicht. Wie mir der Bürgermeister sagte, war ihm Ulrich schon seit jeher zu vorlaut und zu
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